Hanks Welt
Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).
Aktuelle Einträge
14. April 2025Lauter Opportunisten
07. April 2025Die Ordnung der Liebe
29. März 2025Streicht das Elterngeld
17. März 2025Der Kündigungsagent
17. März 2025Hart arbeiten, früh aufstehen
04. März 2025Kriegswirtschaft
21. Februar 2025Lasst Minderheiten regieren
12. Februar 2025Sägen, Baby, Sägen
12. Februar 2025Der Kiosk lebt
05. Februar 2025Was kostet Grönland?
06. September 2021
Grüner wird's nichtNachhaltigkeit, Großspurigkeit, Schlampigkeit
Auf einer Anhöhe südlich von Weimar liegt inmitten eines weitläufigen Parks das Schloss Belvedere, die barocke Sommerresidenz der Familie von Sachsen-Weimar und Eisenach. Das Prunkstück dieser wunderschönen Anlage ist eine Orangerie.
Orangerie – so nennt man historisch repräsentative Gärten für Zitruspflanzen, aber auch die Gewächshäuser, in denen diese Pflanzen die kalte Jahreszeit verbringen. Dass der Wechsel zwischen draußen und drinnen möglich wurde, verdanken wir dem Pflanzenkübel, einer in ihrer Nachhaltigkeit gewaltig unterschätzten menschlichen Erfindung, die auf André Le Nôtre (1613 bis 1700), den Stargärtner von Versailles zurückgeht.
Hunderte Bitterorangenbäume zählten in den besten Zeiten zum Bestand der Orangerie des Weimarer Belvedere. Sie waren Ausdruck einer Hoffnung auf die Wiederkehr des goldenen Zeitalters, sichtbar im Symbol der immergrünen – gleichzeitig Früchte und Blüten tragenden – Zitruspflanzen. Auch Granatäpfel, Feigen und Kaffeebäume seien hier kultiviert worden, so sagt man uns.
Das alles diente dazu, Bedeutung und Reichtum eines barocken Hofes sichtbar werden zu lassen. Und es war ein Ort der Wissenschaft. Bereits der Schlossherr Herzog Karl August von Sachsen-Weimar (1757 bis 1828) gab große Summen für exotische Pflanzen aus. Der Herzog und sein Starminister Johann Wolfgang von Goethe gingen hier ihren botanischen Leidenschaften nach, und so gelangten Exoten aus aller Welt in die Pflanzensammlung eines deutschen Kleinstaates. Besonders berühmt war Belvedere für die Sammlung von sogenannten Kap-Pflanzen und Neuholländern, also Pflanzen aus Südafrika und Australien. Ein besonders gelungenes Beispiel botanischer Globalisierung, wenn man so will.
Thüringen: Das Land, wo die Zitronen blühen
Als wir am vergangenen Wochenende nicht nur, aber auch aus Anlass von Goethes Geburtstag mit Freunden wieder einmal durch die Weimarer Orangerie flanierten, fiel uns auf, dass der Wintergarten selbstverständlich beheizt war. Von Anfang an wurden solche Räume mit mehreren Eisenöfen ausgestattet. Anders hätten die mediterranen und exotischen Pflanzen des Südens das raue Klima Thüringens gar nicht überlebt.
Kurzum: So eine Orangerie schien uns ein vorzügliches Beispiel dafür zu sein, wie sich Pflanzen auch in geographischen Räumen hegen und schützen lassen, die nichts mit ihrer klimatischen Herkunft gemein haben. Sollte ich künftig nach einem Vorbild für eine gelungene Anpassung an den Klimawandel gefragt werden, ich würde von den Orangerien des barocken Zeitalters schwärmen und den Ideenreichtum der damals herrschenden Aristokratie und ihrer wissenschaftlichen Berater preisen. Hier zeigt sich sehr konkret, dass menschliche Kreativität und technischer Erfindergeist zusammenbringen können, was von Natur aus gar nicht zusammengehört: Südfrüchte im Norden.
Die Moral von der Geschichte der Zitrusfrüchte: Wir müssen nicht warten, bis der Klimawandel unseren Planeten zerstört. Wir können uns auch – pro-aktiv wie man heute zu sagen pflegt – ihm entgegenstemmen. Anpassung schlägt Apokalypse.Die Chance eines Lobes technischer Klimaanpassung, so hoffte ich, würde sich auch die Klassik Stiftung Weimer, die die Orangerie bewirtschaftet, nicht entgehen lassen: »Klimawandel in historischen Gärten«, so ist sogar ein laufendes Ausstellungsprojekt benannt, das Teil des Themenjahres 2021 »Neue Natur« ist. Umso enttäuschender gerät dann allerdings die Ausführung: Beredtes Klagen darüber, dass auch die Bäume und Pflanzen der barocken Gärten unter der Erderwärmung zu leiden haben. »Hitze, Dürre, Krankheiten. Wenn ich zehn Jahre in die Zukunft denke, wird mir angst und bange«, klagt Jörg Edel, seines Zeichens Baumkontrolleur in den Weimarer Parks. So sehr ich den Mann verstehe: Meine Überraschung über diese Erkenntnis hält sich in Grenzen. Zu erwägen, künftig in den Parks Bäume und Sträucher zu pflanzen, die die wärmeren Temperaturen besser vertragen, wird als unbrauchbarer Einfall von Kulturbanausen komplett verworfen. Gewiss, die historische Gestalt der Parks entspricht dann nicht mehr im Detail den Ideen des 18. Jahrhunderts. Doch wer Anpassung verweigert, darf sich über den Verfall nicht beklagen.
Origineller als zu klagen und zu weinen wäre es zu bewundern, dass der »Nutzen der Historie für das Leben« in Weimar in der Anschauung der Anpassungsmöglichkeiten an veränderte Umweltbedingungen besteht. Das freilich wäre nicht im Sinn der aktivistischen Präsidentin der Stiftung Weimarer Klassik, Ulrike Lorenz. Sie will künftig »mehr Haltung« zeigen und in die »Gesellschaft von heute« wirken. Womit? Natürlich mit »Nachhaltigkeit«. Das nennt sie eine »Diskurswende«, die doch am Ende schlicht darauf hinausläuft zu machen, was alle machen: Relevanz, Partizipation (»Volksnähe« hätte man früher gesagt), Demokratisierung. Ein MeToo-Projekt (im Vor-Harvey-Weinsteinschen Sinn): Nachäffen ohne jegliche Originalität. Das einzigartige Potential Weimars wird verspielt. Der »Geist der Zeiten« ist bekanntlich allemal »der Damen und Herren eigener Geist«: Es darf vermutet werden, dass diese gedankenarme Zeitgeisterei im Sinne der tonangebenden rot-rot-grünen Thüringer Landesregierung ist. Es darf auch vermutet werden, dass man mit dieser Beflissenheit leichter an öffentliche Fördermittel kommt als mit Widerborstigkeit gegen das, was alle machen.
Der Geist der Zeit ist allemal der Zeitgeist
Ohne Nachhaltigkeit geht gar nichts. Was das konkret ist, ist egal. Weimar macht nichts anderes als die Fondsgesellschaft DWS, die alle ihre Investments zur Geldanlage dem ESG-Gedanken unterstellt: »Environment, Social, Government«. Man habe »einen einzigartigen Ansatz von Nachhaltigkeitsaspekten« gefunden, tönt der Fonds, der den Menschen einen »nachhaltigen Lebensstil« verordnen will. Doch was ist nachhaltig? Atomkraft gewiss – denn ein geringerer Ausstoß von CO2 bei der Produktion von Energie, noch dazu effizient, lässt sich kaum finden. Doch Atomkraft nachthaltig zu nennen, wäre politisch unkorrekt. Nachhaltigkeit ist eine ideologische Chiffre für erhofften Marketingerfolg (einerlei, ob Goethe oder Geldanlage), die mit Klimaschutz nur noch wenig zu tun hat. »Viel Bluff« attestierte die amerikanische Börsenaufsicht SEC kürzlich den DWS-Fonds-Managern. Vielleicht sollte die Behörde sich auch einmal die Nachhaltigkeitsprosa der Klassik Stiftung Weimar vorknöpfen?
Auf den Kommentarspalten des Blogs der Klassik Stiftung findet sich, allerliebst, ein kleines Klimagedicht, in dem es heißt: »Der Handel mit Emissionen/Wird unser Klima nicht schonen/Weg vom ewigen Wachstumswahn/braucht es einen weltweiten Plan/Für den Planeten, die Menschheit/ Gehen wir es an, es ist an der Zeit.« Schöner hätten auch die planwirtschaftlichen Poeten der DDR nicht dichten können. Das »Erbe«, wie man in der DDR gesagt hätte, bleibt auf der Strecke. Wer nur den Zeitgeist nachäfft, dem haben auch Goethes naturwissenschaftliche Schriften nichts mehr zu sagen.
Rainer Hank
30. August 2021
Anleitung zum EnteignenWie man mit Immobilienhaien und Spekulanten umgeht
Am 26. September wählen die Deutschen einen neuen Bundestag. Die Berliner, bei denen gleichzeitig ein neues Abgeordnetenhaus gewählt wird, haben sich an diesem Tag ein besonderes Experiment vorgenommen: Sie stimmen ab über die Initiative »Deutsche Wohnen enteignen«. Immobilieneignern, die mehr als 3000 Wohnungen in ihrem Bestand haben, soll ihr Eigentum konfisziert werden.
Mit der Vergesellschaftung wollen die Initiatoren der Aktion Wohnungen der Spekulation entziehen. »Keine fette Dividende mehr für Aktionär:innen, die aus unseren Mieten bezahlt werden muss.« Künftig soll Wohnraum gemeinnützig in einer Anstalt des öffentlichen Rechts (also eine Art »Wohn-ARD«) verwaltet werden.
Das alles sollte man nicht als Schrulle antikapitalistischer Splittergruppen abtun. Nach einer Umfrage des Berliner »Tagesspiegel« bekommt die Enteignungsinitiative eine relative Mehrheit: 47 Prozent der im April Befragten äußerte sich zustimmend, 44 Prozent waren dagegen, rund zehn Prozent zeigten sich unentschieden. Selbst unter potenziellen CDU-Wählern votierte ein Drittel dafür, den Eigentümern ihr Eigentum wegzunehmen. Für den Schutz des Privateigentums legt sich laut einer neuen Analyse des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstitut HWWI keine Partei ins Zeug.
Für Enteignungen gibt es sogar eine verfassungsmäßige Grundlage. Im Grundgesetz (GG) steht nicht nur der berühmte Artikel 14 »Eigentum verpflichtet«, sondern auch Artikel 15: »Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum überführt werden.« Das Land Berlin, so eine Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages, müsste die »Sozialisierungreife« der Wohnungen feststellen und die Entschädigungsfrage regeln. Da liegen die Vorstellungen zwischen 40 Milliarden Euro (so der Berliner Senat mit Bezug auf den Verkehrswert) und einem symbolischen Euro (so die Radikalenteigner) derzeit noch weit auseinander. Am Ende würde man sich nach aufwändigen gerichtlichen Streitereien schon irgendwo in der Mitte einigen.
Die »Aktion Rose« auf Rügen 1953
Breite Zustimmung, verfassungsrechtliche Grundlage – fehlt nur noch das historische Vorbild. Vergesellschaftungen dieses Ausmaßes habe es bislang noch nicht gegeben, heißt es. Die Auskunft ist nicht korrekt. Es stimmt, Artikel 15 GG wurde in der Bundesrepublik noch nicht angewandt. Die DDR hingegen hat in ihrer Geschichte beherzt und im großen Stil vergesellschaftet. Berühmt geworden ist die »Aktion Rose« im Januar 1953. Damals wurden private Gaststättenbetreiber- und Hoteliers, aber auch Fischräuchereien, Taxiunternehmer und Lebensmittelhändler enteignet. Die Aktion war von der SED Staats- und Parteiführung initiiert, konzentrierte sich auf den Ostseebereich, und dort insbesondere auf die Insel Rügen. Ziel war die flächendeckende Enteignung der kapitalistischen Betriebe auf dem Weg zu einer sozialistischen Gesellschaft.
Warum gerade die Ostsee und Rügen? Dazu hat der auf Rügen lebende Historiker Reinhard Piechocki geforscht. Walter Ulbricht soll sich bei einem Besuch auf der Insel darüber geärgert haben, dass es noch so viele Privathotels und Pensionen gab. Darüber hinaus beschwerte sich der Feriendienst des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes FDGB immer wieder bei den SED-Funktionären, wenn ihm Hotelbesitzer einen Vertrag verweigerten, weil es lukrativer war, Privatgäste einzuquartieren.
Seit Ende 1952 bereitete deshalb die Führung in Berlin eine Aktion vor, durch die mit einem Schlag private Hotels und Pensionen enteignet und dem FDGB-Feriendienst übertragen werden sollten. Das »bürgerliche Privileg einer Urlaubsreise« sollte ersetzt werden durch die Idee »Urlaub für alle«. Die »Aktion Rose« begann am 10. Februar 1953. Es nahmen 400 Volkpolizisten teil. Laut Einsatzprotokoll sangen sie auf dem Weg ins Einsatzgebiet revolutionäre und Heimatlieder: »Jeder Einzelne war davon überzeugt, dass er bei diesem Einsatz einen persönlichen Anteil bei der Schaffung der Grundlagen des Sozialismus in der DDR leistet«, so das Protokoll. Innerhalb eines Monats wurden 440 Hotels, Pensionen und Restaurants in das Volkseigentum der DDR überführt, deren Besitzer enteignet und 447 von ihnen festgenommen. Was 1953 nicht enteignet wurde, wurde spätestens 1972 zwangskollektiviert.
Life, liberty and property
Die »Aktion Rose« ist im Westen kaum bekannt. An der Ostseeküste hat sie sich bis heute tief in die kollektive Erinnerung eingebrannt. In Kasnevitz, einem Dorf bei Putbus auf Rügen, war ich am vergangenen Wochenende Zeuge eines Gesprächs im neuen Dorfgemeinschaftshaus, das das Schicksal des angesehenen und erfolgreichen Händlers Werner Coordt zum Thema hatte, den das Regime 1953 drei Monate in Haft setzte und sein Geschäft enteignete. Seine Witwe, ehemalige Mitarbeiter und Dorfbewohner erinnerten sich jetzt in vielen Detail, wie solche Aktionen dazu angetan waren, die Menschen einzuschüchtern, privates Unternehmertum auszumerzen und Risikobereitschaft zu bestrafen. Zentral geplante Mangelwirtschaft ersetzte die Markt-Findigkeit von Händlern und Hoteliers, die die Bedürfnisse ihrer Kunden und Gäste genau kannten.
Die DDR war ein Unrechtsstaat, die Bundesrepublik ist ein Rechtsstaat. Die Berliner Enteignungsinitiative ist ein demokratischer Vorgang. Wenn die Deutschen mehrheitlich mit dem Sozialismus flirten wollen, sollen sie ihn bekommen. 1953 war »Urlaub für alle« das Motto der Enteignung. Heute heißt es »Wohnraum für alle«. Ist es weniger schlimm börsennotierte Konzerne zu enteignen als kleine Pensionsbesitzer? Ich finde nicht: Enteignung ist Enteignung. Auch der Großkonzern hat Kleinaktionäre.
Die marktwirtschaftliche Erfahrung, dass der Eigennutz des Eigentümers die Voraussetzung für Nutzen des Kunden ist, schwindet, was auch damit zu tun hat, dass sich der Wert vieler Immobilien ohne Engagement und Investitionen der Eigner in den vergangenen Jahren sehr vergrößert hat. Das mag ein Grund dafür sein, dass die Leute finden, Gemeineigentum sei besser als Privateigentum.
Dass ohne den Schutz des Privateigentums die Marktwirtschaft nichts wert ist, gerät in Vergessenheit. Für den englischen Aufklärungsphilosophen John Locke (1632 bis 1704) sind »life, liberty and property« (Leben, Freiheit, Eigentum) unveräußerliche Rechte, die jedermann zustehen und die der Staat zu schützen und nicht zu zerstören hat. Im Zuge des derzeit modischen Antikolonialismus ist nun auch John Locke und das Privateigentum unter schweren Beschuss geraten als Ideologie des imperialen Rassismus zur Versklavung der amerikanischen Ureinwohner und deren Utopie des Gemeineigentums.
Besser wäre es, das Wohnproblem anstatt mit Sozialismus konsequent kapitalistisch zu bekämpfen: Mehr bauen, höher bauen, günstiger bauen. Doch das könnte den Sozialisten ihre Aussicht versperren
Rainer Hank
23. August 2021
Der Irrsinn der Zehn-Punkte-PläneÜber Sofortprogramme, Maßnahmenkataloge – und was wirklich hilft
Jetzt, fünf Wochen vor der Bundestagswahl, der »heißen« Phase des Wahlkampfes, wie man sagt, haben sie wieder Hochkonjunktur: Die Zehn-Punkte-Sofortprogramme. Die Grünen sind Marktführer. Deshalb gibt es von ihnen in diesem Jahr gleich zwei davon: Ein Klimaschutzsofortprogramm in zehn Schritten. Und als Zugabe noch »10 Punkte für Grünes Regieren«.
Werfen wir einen kurzen Blick in die Texte der Grünen: 1. Erneuerbare Energien schneller ausbauen. 2. Den Kohleausstieg auf 2030 vorziehen. 5. Mobilitätswende beschleunigen. 10. Klimaaußenpolitik vorantreiben. Das Prinzip wird deutlich. Nichts kommt wirklich überraschend, selbst für Wähler, die nur grob eine Ahnung haben, worum es den Grünen geht. Jedes Mal wird ein verbaler Beschleuniger eingebaut. Das soll heißen: Wir drücken aufs Tempo. Nicht ungeschickt gemacht, finde ich, erst recht nach dem jüngsten Klima-Dringlichkeits-Tremolo des Weltklimarates. Im Vergleich zum Klimaprogramm fallen die »10 Punkte für Grünes Regieren« eher ab. Da heißt es zum Beispiel unter Punkt 6 »Soziale Sicherheit schaffen«. Wer wäre dagegen! Aber wie? Oder unter Punkt 10: »Fluchtursachen bekämpfen.« Gut, das haben amerikanische und deutsche Militärs gerade zwanzig Jahre lang in Afghanistan versucht. Am Ende müssen wir jetzt mit einer neuen Flüchtlingswelle rechnen.
Die Listen der anderen sind nicht besser. Etwa die »Zehn Punkte« vom #teamLaschetSpahn, die unter der Überschrift »Für ein innovatives und lebenswertes Deutschland« daherkommen. Besonders haben es mir die beiden letzten Punkte angetan: 9. Zusammenhalt STIFTEN. 10. Zukunftspartei SEIN. Donnerwetter. Den Sozialstaat haben ohnehin alle Parteien auf dem Zettel. Die Linke macht ihn »sicher«, die Grünen wollen ihn erst schaffen, haben wohl nicht mitgekriegt, dass es ihn schon gibt. Und die CDU will ihn sogar »modernisieren«. Die SPD übrigens hat keinen Zehnpunkteplan, sondern lediglich »Zwanzig Punkte gegen Steuerhinterziehung«. Und der FDP ist nach drei Punkten die Puste ausgegangen. Beides könnte sich am 26. September rächen. Ohne Zehnpunktepapier geht gar nichts.
Repertoire der politischen Entscheidungssimulation
Es hätte mir von Anfang an klar sein müssen, dass es vergebliche Liebesmühe ist, aus Zehnpunkteplänen inhaltliche Hilfestellungen für eine Wahlentscheidung bekommen zu wollen. Das ist nicht der Zweck dieser Literaturgattung, die redundant und unbestimmt bleiben müssen, einerlei aus welcher politisch-ideologischen Ecke sie stammen.
Doch warum versorgen uns die Parteien überhaupt mit derartigen Zehnerlisten, nicht nur zur Wahl? Mein Lieblingszitat stammt aus der Badischen Zeitung vom 2. Juni 2012: »Der neue Bundesumweltminister Peter Altmaier hat einen Plan. Er kennt den Inhalt noch nicht, aber es werden zehn Punkte sein.« Eine Erklärung für derartig absurde Sätzen findet sich in einem Buch des Bremer Politikwissenschaftlers Philip Manow, das den schönen Titel trägt »Die zentralen Nebensächlichkeiten der Demokratie.« Der Zehnpunkteplan gehöre zwingend zum »Repertoire der politischen Entscheidungssimulation«, schreibt Manow: Politiker wissen im Grunde, wie ohnmächtig sie sind (siehe Klima, siehe Afghanistan). Aber sie wissen auch, dass sie, frei nach dem Motto einer legendären Ford-Werbung, den Eindruck erwecken müssen: »Die tun was!« Und natürlich auch: »Die schaffen das.« Zehnerlisten sind Instrumente zur »Rückerlangung des Anscheins von Souveränität, Instrumente aus dem reichen Kasten politischer Inkompetenzkompensation« (Philip Manow).Bis heute unübertroffenes Vorbild aller Zehnpunktepläne ist natürlich der Dekalog, die Zehn Gebote, mit denen Mose vom Berg Sinai zurückgekommen ist. Der Dekalog zeichnet den Zehnpunkter vor allen anderen Bulletpoint-Bingo-Rankings aus. Zehn sind besser als fünf oder gar vierzehn. Berühmt wurde Georges Clemenceaus Kommentar auf Woodrow Wilsons 14–Punkte-Rede zu einer Friedensordnung für Europa vom Januar 1918: »Le bon dieu n’en avait que dix!«: Der liebe Gott ist doch auch mit nur zehn ausgekommen. Doch Mose musste sogleich erleben, dass das Volk Israel sich einen Teufel scherte um seine Zehn-Punkte-Programm und lieber um das Goldene Kalb tanzte.
Ich hätte übrigens eine Alternative zu den Zehnpunkteplänen. Der amerikanische Politiker Warren G. Harding (1865 bis 1923), ein Republikaner, wurde im Jahr 1921 zum US-Präsidenten gewählt. Sein Slogan hieß: »Return to Normalcy«. Das war direkt nach der Pandemie der spanischen Grippe ein befreiendes Verspechen. Warum soll so etwas heute nicht auch in Deutschland funktionieren? Wir kehren zurück zur alten Normalität. Das meint nicht nur die Freiheit des Alltagslebens. Es meint auch das Ende der grassierenden Staatswirtschaft.Wider die ordnungspolitische Verwahrlosung
Denn die Gefahr besteht, dass der ordnungspolitische Ausnahmezustand der langen Pandemie-Monate zur neuen Normalität wird, weil dies den Politikern Raum für immerwährenden Aktivismus eröffnet. Zum Beleg für meinen Verdacht taugen die Beschlüsse der letzten Ministerpräsidentenkonferenz von Anfang August. Unter den vielen Auflagen der Politik an die Betriebe findet sich etwa die Aufforderung der »Arbeitsschutzverordnung«, die Betriebe müssten Homeoffice anbieten. Das findet weiterhin breit statt. Dies wiederum führt dazu, dass viele Restaurants in den Städten kurzarbeiten lassen und einen zweiten »Ruhetag« einlegen, weil der Andrang zum Lunch noch nicht so groß ist wie vor der Krise. Absurd ist es, dass die Politik mit Geld der Steuer- und Beitragszahler (Kurzarbeit) einen Zustand (Homeoffice) kompensiert, den sie selbst mehr oder weniger vorgeschrieben hat. Mit Marktwirtschaft hat das nichts zu tun. Die Betriebe und ihre Beschäftigten sollen selbst eine Balance zwischen Office und Home-Office aushandeln. Womöglich überleben danach nicht mehr alle Restaurants. Sie dürften deshalb erst recht mit Kurzarbeitergeld gepäppelt werden.
Ordnungspolitik heißt: Lasst den Staat machen, was der Staat kann, und den Markt, was der Markt kann. Fast zwei Jahre erleben wir jetzt eine »ordnungspolitische Verwahrlosung« – so der Würzburger Ökonom Norbert Berthold: Staatswirtschaft verdrängt mehr und mehr die Marktwirtschaft. Der Staat verteilt Masken und Impfstoffe, nicht besonders effizient, wie wir gesehen haben. Der Staat verschuldet sich über die Halskrause und hofft auf unendlich viele Jahre mit Niedrigzinsen. Politiker finden großen Gefallen an dieser Art Staatswirtschaft. Geldausgeben macht ihnen Spaß. Viel Staatsgeld kommt jetzt auch zum Wiederaufbau der von der Flut zerstörten Städte und Dörfer an der Ahr zum Einsatz. In Wahlkampfzeiten geht das wahrscheinlich nicht anders – es wird freilich die Neigung, künftig klimabedingte Unwetterrisiken privat zu versichern, nicht gerade fördern. Der staatliche Allmachts-Gestus wird schließlich auch nicht dazu beitragen, dem Klimawandel mit Marktlösungen (Emissionshandel, CO2–Steuern) zu trotzen. Interventionismus und viel Geld ausgeben gehören – wie die Zehnpunktepläne – zum Instrumentenkasten politischer Kompetenzsimulation. Der Aufruf »Zurück zur Normalität« hat es da schwer, ich weiß.
Rainer Hank
16. August 2021
Warum gibt es Hungersnöte?2 Bilder ›
Amartya Sen hat eine überraschende Erklärung
Shantiniketan ist ein kleines Städtchen im indischen Bundesstaat Westbengalen. Der Dichter und Philosoph Rabindranath Tagore gab dem Ort seinen Namen. Wörtlich übersetzt bedeutet er »Heimstatt des Friedens«. Tagore gründete hier 1901 die Visva-Bharati Universität. Die Vorlesungen und Seminare wurden unter hohen Mango-Bäumen im Freien abgehalten. Hier studierte in den vierziger Jahren der spätere Ökonomie-Nobelpreisträger Amartya Sen. In Shantiniketan war er geboren. Dort wuchs er bei seinen Großeltern auf, beide große Bewunderer von Tagore. Noch bevor der Junge Englisch sprach, lernte er Sanskrit.
Die ländliche Idylle Shantiniketans wurde im Frühjahr 1943 abrupt gestört. Vom Hunger gezeichnete Menschen tauchten auf, erbettelten sich etwas zu essen und zogen weiter nach Kalkutta, wo sie auf Erlösung aus ihrem Elend hofften. Vergeblich. Was Sen als Zehnjähriger zu sehen bekam, war der Beginn der sogenannten »Großen Bengalischen Hungersnot«, der größten Katastrophe Britisch-Indiens. Zwischen zwei und drei Millionen Menschen, genau weiß man es nicht, fielen ihr zum Opfer.
Die frühe Erfahrung ließ Sen sein Leben nicht mehr los. Mit Forschungen über die Ursachen von Hungernöten, die er dreißig Jahre später anstellte, sollte er berühmt werden. Alle denken, dass Menschen hungern, weil sie nichts zu essen haben. Sen bestreitet das. Ich habe Sens dieser Tage erschienene, für das Genre untypisch ungeschwätzige Autobiographie »Home in the world« (Zuhause in der Welt) gelesen: Der Titel ist eine weitere Verneigung vor Tagore und bezieht sich auf die Spannungen zwischen westlichem und östlichem Denken und der Möglichkeit ihrer Versöhnung. Nichts bringt den heute 87 Jahre alten Sen so auf die Palme wie Samuel Huntingtons These eines dauerhaften Clashs der Kulturen. Das multikulturelle Bengalen seiner Kindheit und die Lehren Tagores bargen für Sen die Erfahrung eines spannungsreichen, jedoch versöhnlichen Zusammenlebens der Kulturen. Die Verehrung für Tagore hält bis heute an. Auch seinen Vornamen verdankt er dem Dichter: Amartya bedeutet auf Bengalisch »unsterblich« oder »himmlisch«.
Zurück zur Großen Hungersnot. Seit 1942 hatten die Preise für Lebensmittel in Bengalen angezogen. Warum das so war, blieb zunächst unklar. Die das Land regierenden Briten ignorierten die humanitäre Katastrophe, weil sie die Auffassung vertraten, es gäbe ausreichend zu essen und zu trinken. Damit lagen sie nicht falsch. Aber, so Sen, sie hatten die falsche Theorie, die ihre Ignoranz rechtfertigte und den Bengalen zum Verhängnis wurde. Blickte man lediglich auf das Angebot, so gab es keinen Mangel an Lebensmitteln. Es kam sogar mehr Ware auf den Markt.
Indien im Zweiten Weltkrieg
Doch was war mit der Nachfrage? Da gab es einen Boom. Wie kann es sein, dass es in einer boomenden Wirtschaft zugleich zu einer schrecklichen Hungersnot kommt? Wir befinden uns mitten im Zweiten Weltkrieg in Ostasien. Japanische Truppen standen an den Grenzen zu Indien. Hinzu kamen anti-britische indische Soldaten, später dann auch die Amerikaner. Überall wurde aufgerüstet, wofür Menschen gebraucht wurden, die viel essen mussten. Und das Geld dazu vom Staat bekamen. Es war ein Nachfrage-Schock, der die Preise nach oben schnellen ließ. Es gab Panikkäufe. Später kamen Spekulanten dazu, die aus der Not ihren Reibach machten.
So nahm das Unglück seinen Lauf. Um sicherzustellen, dass die Menschen in Kalkutta zu essen hatten, rationierte die Regierung in der Großstadt die Waren, die von ihr in den ländlichen Gegenden Bengalens zu nahezu jedem Preis aufgekauft wurden. Während die städtische Bevölkerung zu essen hatte und die auf dem Land lebenden oberen Schichten – zu denen Sens Familie zählte – ebenfalls, konnte es sich die arme Landbevölkerung nicht mehr leisten, Nahrungsmittel zu kaufen. Sie degenerierten moralisch und verhungerten elendiglich. Hunger, so Sen, ist eine Frage der gesellschaftlichen Klasse.
Hunger, trotz eines großen Angebots an Essen – so erklärt sich die Paradoxie. Hunger heißt nicht, dass es nichts zu essen gibt. Hunger heißt, dass die Armen kein Geld haben, sich etwas Essbares zu kaufen. Bei seinen Studien in den siebziger Jahren stellte Sen fest, dass dies generell für Hungersnöte gilt. Es geht um Rechte und Ansprüche (»entitlement«), nicht um Verfügbarkeit (»availability«) von Nahrung. Daraus leitet Sen seine These ab, Hunger sei kein ökonomisches, sondern ein politisches Problem. Auch das konnte er 1943 beobachten und mit seinen debattierfreudigen Onkeln, Tanten und Großeltern besprechen. Die englischsprachigen Zeitungen Indiens berichteten nicht über die Nahrungskatastrophe aus einer falsch verstandenen Solidarität mit den gegen die Nazis Krieg führenden Briten, denen man nicht in den Rücken fallen wollte. Das Parlament in London nahm von der Hungersnot lange keine Kenntnis. Der britische Premier Winston Churchill ignorierte, als sie ihn dann erreichten, alle Hilferufe zynisch und kaltherzig.
Biographien von Wissenschaftlern sind in der Regel ziemlich langweilig. Die Abenteuer von Geistesarbeitern spielen sich im Kopf ab. Äußerlich passiert da wenig. Sie sitzen am Schreibtisch, in der Bibliothek, im Labor, schreiben Papers und Bücher, diskutieren mit ihresgleichen auf Kongressen, unterrichten im Seminar und im Hörsaal.Geht die Farbei beim heiß Baden ab?
Sens Forschungen laufen anders, sie haben einen konkreten Sitz in seinem Leben. Seine Autobiographie ist, so gesehen, eine akademische Ausnahme. Weil sein Leben eine Ausnahme ist. Ständig ist er in der Welt unterwegs, in den frühen Jahren häufig auf dem Schiff. Sein Weg führt von Shantiniketan nach Kalkutta, von dort nach Cambridge in England, dann an das MIT in Boston und wieder zurück nach Delhi. Besonders aufregend muss es in den fünfziger Jahren in Cambridge gewesen sein. Eine intellektuell offene Atmosphäre, wo Keynesianer mit Liberalen (wie dem Entwicklungsökonomen Peter Bauer) und Marxisten um das beste Argument stritten und sich nicht – wie heute – in ihre Echokammern zurückzogen. Sens akademischer Held ist der heute nur noch von Fachleuten hoch geachtete Piero Sraffa. Seine Heldin im Leben ist Mrs. Hanger, seine Zimmerwirtin in Cambridge, die wohl noch nie einen Mann aus Indien gesehen hatte: Besorgt wollte sie wissen, ob wohl seine Farbe beim heiß Baden abgehen könnte. Sen nahm ihr die Frage nicht übel. Und Mrs. Hanger war alsbald tief überzeugt, dass alle Menschen gleich sind.
Sens Fragen sind seit der Kindheit dieselben: Wie vermeiden wir Armut und Hunger? Und was lässt sich tun gegen die Erfahrung von Ungleichheit, die nicht allein in einer ungerechten Einkommensverteilung gründet, sondern sich auch auf die Frage bezieht, welche Ressourcen Menschen brauchen, um unabhängig von Rasse und Klasse befähigt zu werden, ein autonomes Leben zu führen. Immer geht es um Gerechtigkeit. Es ist eine zutiefst humane ökonomische Theorie. Sollte jemand noch nach Ferienlektüre suchen: »Home in the World« wäre eine gute Wahl.
Rainer Hank
12. August 2021
Schröpft die Reichen!Warum zahlen sich die Geldversprechen linker Parteien nicht aus?
Lassen sich mit dem Versprechen von Steuererhöhungen Wahlen gewinnen? Es gibt dazu ein bizarres Beispiel der jüngeren Geschichte: Vor der Bundestagswahl 2005 hatte Angela Merkel, die damals zum ersten Man antrat, eine Erhöhung der Mehrwertsteuer um zwei Prozentpunkte angekündigt. Die SPD war strikt dagegen. Am Ende wurde Merkel Bundeskanzlerin, und die Mehrwertsteuer wurde um drei Prozent erhöht. Spott ergoss sich über die Sozialdemokraten, weil sie der Gleichung zwei plus null macht drei zugestimmt hatten.
Mein Beispiel ist die Ausnahme geblieben: Der Normalfall ist seit langem, dass die linken Parteien im Wahlkampf Steuererhöhungen für die Reichen ankündigen. Und dass ihnen dies noch nicht einmal die potentiellen Profiteure danken. Ich habe mir den fiskalpolitischen Teil der Wahlprogramme linker Parteien in Deutschland (SPD, Grüne, Linke) seit 2009 angesehen. Stets sollen die Reichen stärker zur Kasse gebeten, die Mittelschicht und die Ärmeren dagegen entlastet werden: Mal über einen höheren Spitzensteuersatz, mal über eine Vermögenssteuer, mal über eine höhere Erbschaftssteuer, mal alles zusammen. Mehr Umverteilung von oben nach unten, um die Ungleichheit der Einkommen zu lindern, so lauten die Signale.Das strategische Kalkül der Linken geht so: Die Reichen sind Minderheit, alle nicht so Reichen sind Mehrheit, bei der das Umverteilungsversprechen auf fruchtbaren Boden fallen müsste. Die Wähler hat das nicht überzeugt. Die Unterstützung der SPD ist seit 2005 von 34 Prozent auf 20 Prozent 2017 geschrumpft. Derzeit stagnieren die Sozialdemokraten bei 16 Prozent. Die Ergebnisse der Partei »Die Linke« wurden einstellig. »Die Ausrichtung der Wahl auf Steuerthemen hat sich bisher für die Oppositionsparteien nicht ausgezahlt«, schrieb Renate Köcher, die Chefin des Allensbacher Instituts für Demoskopie 2013 in der FAZ. Es mag hinzukommen, dass die SPD in drei von vier Merkel-Regierungen als Juniorpartnerin nichts von dem durchzusetzen vermochte, was sie versprochen hatte.
Da verwundert es schon, dass im laufenden Wahlkampf die Linksparteien in ihren Programmen der Steuerpolitik abermals viel Platz einräumen. Während die Union Steuersenkungen ankündigt und – erkennbar unredlich – weder Verschuldung noch Staatausgaben einschränken will, sondern weitere öffentliche Investitionen verspricht, scheinen die Linken aus der Vergangenheit nichts gelernt zu haben. Würden deren Wahlprogramme umgesetzt, müsste ein Ehepaar mit zwei Kindern und einem Jahreseinkommen von 300 000 Euro künftig mit deutlich weniger Geld auskommen: Jährliche Einbußen von 12 000 Euro sind es bei SPD und Grünen. Unfassbare 190 000 Euro will die Linke dem Paar wegnehmen, was vor allem aus der Einführung einer konfiskatorischen Vermögenssteuer resultiert. Zugleich wäre ein Ehepaar mit zwei Kindern in den unteren Einkommensschichten bessergestellt als heute: Ihnen stünden bei einem Brutto-Einkommen von 40 000 Euro jährlich rund 3300 (Grün), 4000 (SPD) oder sogar 5100 (Linke) Euro mehr Geld im Jahr zur Verfügung. Das sind Berechnungen des Mannheimer Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW), die beweisen, dass es auch 2021 möglich ist Gewinner und Verlierer der Wahlprogramme zu identifizieren.
Bewährt sich das Gesetz der Serie, werden sich diese Verteilungsversprechen im September 2021 abermals für die linken Parteien nicht auszahlen. Woran liegt das?
Der Mannheimer Politikwissenschaftler Thomas König hat herausgefunden, was wirklich die Wahlentscheidungen der Menschen beeinflusst. Sogenannte »Sachthemen« – und damit auch die Wahlprogramme – spielen allenfalls eine sehr nebensächliche Rolle. Viel wichtiger sind affektive Faktoren, die eine emotionale Bindung der Wähler zu »ihren« Parteien und den prominenten Repräsentanten zum Ausdruck bringen. Dabei geht es vor allem um Vertrauen und Glaubwürdigkeit, ein »Kapital«, das viel wichtiger ist als finanzielle Zusagen. Wenn das stimmt, können die Parteien versprechen, was sie wollen: es geht nur marginal in die Entscheidungsfindung der Wähler ein. Vor diesem Hintergrund klingt es scheinheilig, wenn jetzt viele beklagen, dem Wahlkampf mangele es an Sachthemen.
Ungleichheiten werden unübersichtlich
Eine weniger radikale Erklärung findet sich in Forschungen des Berliner Soziologen Steffen Mau. Mau zufolge ist die Unterscheidung zwischen oben und unten heute nur noch eine unter mindestens vier »Spaltungen«. Die traditionelle Unterscheidung zwischen Kapital und Arbeit, die – wenn nicht auf Revolution, so auf Redistribution setzt – ist inzwischen in die Jahre gekommen. Daneben gibt es die Spaltung in »Innen/Außen«, wo Migration eine große Rolle spielt und die Frage viel wichtiger ist, ob und in welchem Umfang Einwanderer Zugang zu unseren sozialen Sicherungssystemen bekommen. Modern sind auch die »Wir-Sie-Ungleichheiten«: Da geht es um die Anerkennung und rechtliche Gleichstellung von »nicht-heteronormativen Lebensformen«, diversen Identitäten und Minoritäten. Das sind Themen, die den links eingestellten besserverdienenden Eliten wichtiger sind als Fragen der Umverteilung. Schließlich spielen »Heute-Morgen-Ungleichheiten« eine große Rolle: Hier geht es um Ökologie und Nachhaltigkeit und die zwischen den Generationen ungleich verteilten Umweltrisiken. Die Themen »Klimawandel« und »Migration« könnten als die entscheidenden Sachthemen die Wahl entscheiden, Fiskalthemen dagegen rangieren unter ferner liefen.
Man kann sagen, das Thema Ungleichheit ist heute auch nicht mehr, was es einmal war. Heute sind wir mit einer neuen Unübersichtlichkeit der Ungleichheiten konfrontiert. So ist auch erklärbar, warum zwar 80 Prozent der Bevölkerung davon überzeugt sind, dass unser Steuersystem ungerecht ist und die Unterschiede zwischen Arm und Reich zunehmen. Doch selbst einkommensschwache Bürger in Ost und West überzeugen die linken Gerechtigkeitsversprechen nicht. Sie fühlen sich von den linken Parteien alleingelassen in ihrer Angst vor Überfremdung, eine Angst, die offenbar ganz im Vordergrund der Wahlentscheidung steht: Mit Blick auf die Innen-Außen-Ungleichheit wählen sie AfD und nicht die linken Parteien.
Eine letzte Erklärung klingt eher simpel, ist mir aber eigentlich die liebste. Womöglich geht es uns viel besser als viele Journalisten-Kollegen und Sozialwissenschaftler uns seit Jahren weismachen, die vor lauter Spaltungen und Gerechtigkeitsgräben übersehen, wie groß der Zusammenhalt in unserer Gesellschaft ist. Jeder, der will, findet Arbeit. Der Wohlstand ist so hoch wie noch nie in allen sozialen Klassen. Krisen wie Corona durchstehen wir – abgesehen vom Bildungssystem – solidarisch und ohne größere Blessuren. Die Ungleichheit der Einkommen wächst seit dem Jahr 2005 nicht mehr. Es könnte sein, dass die Mehrheit der Deutschen – arm wie reich – in Wirklichkeit andere Probleme hat als »oben und unten« zu egalisieren. Die linken Parteien wären dann altmodischer als ihre potentiellen Wähler.
Rainer Hank