Hanks Welt
Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).
Aktuelle Einträge
02. Januar 2025Das Evangelium nach Peter Thiel
02. Januar 2025Wer die Wahl hat
04. Dezember 2024Ein Hoch auf Pharma
04. Dezember 2024Mit Unsicherheit leben
15. November 2024Zwangsarbeit
05. November 2024Totaler Irrsinn
18. Oktober 2024Arme Männer
14. Oktober 2024Christlicher Patriotismus
08. Oktober 2024Im Paradies der Damen
28. September 2024Von der Freiheit träumen
08. Juni 2021
Hundert Euro Klima-Prämie für alleWarum die Pendlerpauschale weg muss
Letztes Jahr um diese Zeit mussten wir für einen Liter Diesel rund 98 Cent bezahlen. Heute können wir froh sein, wenn wir mit 1 Euro 35 aus der Tankstelle kommen. Was ist passiert? Na ja, Angebot und Nachfrage: Im harten Lockdown standen die Bänder still und der Verkehr ruhte. Demensprechend war der Ölpreis auf Tiefstand. Heute pulsiert das Leben wieder, Öl und Benzin sind teuer.
Doch das ist nicht alles. Deutschland soll 2045 klimaneutral werden. Deshalb muss jetzt für den Ausstoß von Kohlendioxid (CO2) beim Autofahren eine Straf-Steuer bezahlt werden: 25 Euro je Tonne CO2. Umgerechnet macht das den Liter Diesel um 8 Cent teurer. Das ist noch nicht das Ende: Bis zum Jahr 2025 steigt der CO2–Preis auf 55 Euro, was den Liter Diesel um 15 Cent verteuert. Die Absicht ist klar: Uns soll das Dieselfahren versäuert, der Umstieg auf ein E-Auto mit allerlei Prämien schmackhaft gemacht werden. Wenn sich die Grünen politisch durchsetzen, geht alles noch viel schneller: Schon 2023 soll der CO2–Preis auf 60 Euro steigen. Seit Tagen tobt hierzulande deshalb mal wieder ein populärer Spritstreit.
Im Prinzip finde ich in Ordnung, dass Benzin und Diesel teurer werden, auch wenn es schlechte Laune macht. Der beschleunigte Verzicht auf die Nutzung fossiler Energieträger (Öl, Gas, Kohle) ist das entscheidende Instrument, den Klimawandel aufzuhalten. Verhalten steuert man über den Preis, sagen die Ökonomen – besser als über komplizierte Interventionen und Subventionen.
Müssen die Verlierer entschädigt werden?
Doch es bleibt die Frage, ob es beim Umstieg gerecht zugeht. Wenn wir den Eindruck haben, dass etwas fair ist, sind wir mit dem Leben zufrieden und weniger neidisch auf unsere Mitmenschen. Wir sind auch eher bereit, Verzicht und Verteuerung zu akzeptieren, uns also aktiv für den Ausstieg aus Öl und Kohle zu engagieren. Nun könnte man global werden und mit dem Finger auf China zeigen, wo der CO2–Verbrauch Jahr für Jahr zunimmt, während wir in Europa uns einschränken sollen. Und wenn wir uns einschränken, verbilligt das den Preis für fossile Energie, was auf andere Nationen als zusätzlicher Anreiz zum Heizen mit Öl und Kohle wirkt. Der gerne vorgebrachte Hinweis, die Prokopf-Emissionen in China seien den unseren vergleichbar, verfängt nicht. Die Masse machts, nicht der Einzelne.
Zugegeben, der Fingerzeig auf China könnte eine Immunisierungsstrategie sein, um uns unserer Verantwortung zu entledigen. Deshalb will ich die Gerechtigkeitsfrage hier lediglich national stellen und mich auf den derzeit umstrittenen Autoverkehr beschränken. Der höhere Spritpreis trifft alle gleich: Arme und Reiche, Vielfahrer und Wenigfahrer. Viele Politiker sind der Meinung, es müsse deshalb einen sozialen Ausgleich geben für Ärmere, die lange Wege zur Arbeit auf sich zu nehmen genötigt sind.
Nun ist es nicht so, dass die Frage des fairen Ausgleichs erst jetzt aufgefallen wäre. Vom 21. Kilometer an können Pendler seit diesem Jahr nicht mehr nur 30, sondern 35 Cent (ab 2024 sogar 38 Cent) in der Steuererklärung »absetzen«. Um zu entscheiden, ob das gerechtr ist, muss man rechnen. Das ist nicht trivial, weil Einkommen, Progression und Entfernung als Variable je eine Rolle spielen. Zum Glück gibt es Fachleute wie Michael Pahle, ein kluger Ökonom am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK). Er hat für mich gerechnet und mir eine wunderbare Excel-Tabelle geschickt. Nehmen wir einen Pendler, der täglich mit seinem Auto von Friedberg nach Frankfurt zur Arbeit fährt. Das sind gut 30 Kilometer. Wir legen einen Durchschnittssteuersatz von 30 Prozent zugrunde und gehen zusätzlich davon aus, dass seine sonstigen Werbungskosten über dem Pauschbetrag von 1000 Euro liegen. Dann sagt uns unsere Excel-Tabelle, dass sich die Spritkosten bei der Fahrt zur Arbeit um 51,75 Euro im Jahr erhöhen. Zugleich bringt unserem Pendler die erhöhte Entfernungspauschale 34, 50 Euro. Er »spart« somit am Ende des Jahres 17, 25 Euro gegenüber dem »offiziellen« CO2–Preis.
Ein »Scheck« für alle
Lassen wir nun eine Pendlerin bei sonst gleichen Bedingungen in Bad Nauheim wohnen, das sind 40 Kilometer nach Frankfurt. Dann erhöhen sich in diesem Jahr ihre Spritkosten um 69 Euro, ihre aufgebesserte Pauschale bringt ihr ebenfalls 69 Euro. Sie ist fein raus: Die Rechnung geht Null auf Null auf. Erst im Jahr 2025 zahlt auch sie drauf: Kosten von 151,80 Euro steht die Erstattung von 110, 40 Euro gegenüber. Schließlich lassen wir die Frau auch noch richtig reich werden, indem wir einen von der Progression ausgelösten Durchschnittssteuersatz von 35 Prozent zugrunde legen. Für die reiche Bad Nauheimerin lohnt sich das Pendeln: In diesem Jahr hat sie ein Plus von 11,50 Euro; erst im Jahr 2025 dann ein Minus von sogar 23 Euro.
Jetzt haben wir das Prinzip kapiert: Je weiter die Strecke, die man pendelt und je höher das Einkommen, umso besser. Der Pendler wird nicht allein für die CO2–Bepreisung kompensiert, wenn er besonders reich ist, hat er am Ende sogar noch kleines Trinkgeld übrig gegenüber der Zeit vor der CO2–Bepreisung. Dass hier etwas nicht stimmt, ist nicht nur mir, sondern auch der Politik aufgefallen. Damit auch arme Pendler nicht bestraft werden, die unter oder knapp am Steuergrundfreibetrag liegen, erhalten sie eine sogenannte »Mobilitätsprämie. Eine Pendlerin mit einem zu versteuernden Einkommen von 9100 Euro bekommt beispielsweise eine Prämie von 42,84 Euro als Kompensation für den höheren Spritpreis ausbezahlt.
Dass das nicht gerecht ist, sieht ein blinder Fußgänger mit Krückstock. Die Pendlerpauschale war immer schon eine hoch problematische Subvention, mit der der Staat auf Einnahmen von jährlich 5,1 Milliarden Euro verzichtet. Pendler, ob arm oder reich, profitieren von der Entfernungspauschale und zusätzlich von günstigeren Immobilien- und Mietpreisen im Umland. Wäre es nicht besser gewesen, im Interesse des Klimas und aus Gründen der Fairness die Pendlerpauschale ganz zu streichen? Ich finde schon. Doch offenbar fürchtet die Politik die Rache der pendelnden Wähler. Die derzeitige Debatte gibt darauf einen Vorgeschmack.
Man könnte es fairer machen, findet Klimaökonom Pahle. Für viele Menschen ist eine CO2–Steuer kontraintuitiv. Sie verstehen nicht, was Preise und Klimarettung miteinander zu tun haben und präferieren direkte Investitionen in Wind- und Sonnenenergie. Aber immerhin – das zeigen Pahles Befragungen – fänden die Leute es gut, gäbe es zur Kompensation der höheren Spritpreise eine einheitliche Pro-Kopf-Prämie für jedermann. Eine solche »explizite Rückverteilung« wäre anders als die »implizite Rückverteilung« (Pendlerpauschale, Abschmelzen der EEG-Umlage) für jedermann sichtbar und würde mehrheitlich als fair empfunden. Bei Einnahmen aus der CO2–Steuer von geschätzt 3,6 Milliarden Euro im laufenden Jahr erhielte jeder der 80 Millionen Bürger einen »Scheck« in Höhe von 45 Euro. Bei erwarteten Einnahmen von geschätzt 8,3 Milliarden im Jahr 2023 wären es immerhin schon 104 Euro, mithin für eine vierköpfige Familie 416 Euro. So eine Pro-Kopf-Prämie würde die Bereitschaft erhöhen, sich für den Klimawandel einzusetzen. Politiker könnte sich damit sogar als gerechte Klima-Wohltäter profilieren. Vielleicht macht sich ja eine Partei diese Idee im Wahlkampf zu eigen?
Rainer Hank
01. Juni 2021
Test-Muffel müssen sich nicht fürchtenWarum halten wir uns trotzdem brav an die Corona-Recht?
So fühlt sich Freiheit an: Platz nehmen, Speisekarte studieren, Bestellungen aufgeben. Wie lange hat uns das gefehlt! Jetzt also geht es los. Das gewöhnungsbedürftige Zauberwort heißt »Außengastronomie«. Vor den Genuss haben die Corona-Politiker die bestandene Aufnahmeprüfung gesetzt: Wer nicht genesen oder doppelt geimpft ist, der braucht einen frischen negativen Test. Da fängt unser innerer Utilitarist sogleich zu wägen an: Termin vereinbaren, Teststation aufsuchen, Ergebnis abwarten – und das alles für zwei Weizenbiere am kalten Maiabend?
Zwei Erfahrungen kann ich berichten. Beim ersten Mal ging es oberkorrekt zu. Vor Betreten des Gasthausgartens mussten wir einen Selbsttest machen, dann einchecken über die Luca-App, dann mit Maske der Wirtin das negative Ergebnis vorzeigen, die dafür ein mehr oder weniger amtlich aussehendes Dokument ausstellt. Zeitkosten circa fünfzehn Minuten, dann unbeschwert Abendessen. Das nächste Mal, andere Lokalität, ging es deutlich lockerer zu. Zwar stand auf der Schiefertafel am Eingang, der Zugang sei nur mit Test oder Doppelimpfung erlaubt. Gefragt hat uns niemand.
Dieser zweite Außengastronomie-Besuch, unaufwändig und an Eigenverantwortung appellierend, fühlte sich deutlich freiheitlicher an, hinterließ aber einen Rest schlechtes Gewissen: Ich hätte ja auch von mir aus das Testthema ansprechen können. Und was wäre passiert, wäre just beim Hauptgang (»Tartar Frites«) ein Kontrolleur erschienen? Oder es säße ein Superspreader mitten unter uns. Das müsste man wohl den Ischgl-Moment nennen.
Nüchtern Kosten und Nutzen abwägen
Gehen wir die Sache systematisch an. Gary Becker, Altmeister der Chicago-Schule der Ökonomie, 1992 mit dem Nobelpreis dekoriert, 2014 verstorben, pflegte gerne folgende Geschichte zu erzählen: Spät dran bei einem wichtigen Termin, steht er vor der Alternative, lange ein Parkhaus zu suchen und den Termin nicht zu schaffen oder im Parkverbot direkt vor seinem Ziel den Wagen abzustellen und einen Strafzettel zu riskieren. Becker entschied sich für das Parkverbot, nachdem er intuitiv die Strafzettel-Wahrscheinlichkeit als relativ gering und das drohende Knöllchen als verkraftbar taxiert hatte. Kosten-Nutzen-Erwägungen finden überall statt. Für den das Recht durchsetzenden Staat bedeutet das, dass er zwei Möglichkeiten hat: Entweder muss die Entdeckungswahrscheinlichkeit hoch sein (viele kontrollierende Polizisten) oder die Strafe saftig.
Zurück in die Außengastronomie: Die Entdeckungswahrscheinlichkeit scheint mir ziemlich gering zu sein. Es müssten in den kommenden Wochen viele Sheriffs durch deutsche Biergärten streifen, um zu kontrollieren, ob alle Gäste getestet (respektive genesen oder geimpft) sind. Und sähe das dann nicht wirklich arg nach Polizeistaat aus? Gemäß der Substitutionstheorie von Gary Becker müsste folglich die Strafe ordentlich ausfallen, um die Corona-Norm durchzusetzen. Wie hoch wäre das Bußgeld gewesen, hätte man mich beim Tartar ohne Impfausweis erwischt? Und wer müsste es bezahlen? Ich oder der Wirt?
Eine Recherche im Netz und im FAZ-Archiv brachte keine eindeutige Antwort. Also Nachfrage beim Hessischen Gesundheitsministerium. Die amtliche Antwort lässt nicht lange auf sich warten: Die Höhe des Bußgeldes werde von der »kontrollierenden Gebietskörperschaft« festgelegt. Für Frankfurt wird eine Spanne zwischen 500 und 1000 Euro genannt. Belangt würde nicht ich, sondern der Wirt.
Ziehen wir eine Zwischenbilanz: Das Risiko, ohne Testnachweis in der Kneipe erwischt zu werden, ist ziemlich gering, die mögliche Höchststrafe für den Kneipenbesitzer (1000 Euro) eher saftig. Doch wie soll man die abschreckende Wirkung einer Strafandrohung beurteilen, wenn es erst längerer Recherchen bedarf, um das Drohpotential zu eruieren? Das ist der Unterschied zwischen Corona-Neuland und dem Park-Knöllchen Gary Beckers, das vom Regelbrecher einfach zu kalkulieren ist. Jedenfalls müsste man aus Sicht der Staatsgewalt, welche die Einhaltung des Infektionsschutzgesetztes auch durchsetzen will, nachdenklich werden, ob das alles funktioniert. Aus Sicht des freiheitsliebenden Bürgers, der die Testpflicht zumindest im weitläufigen Biergarten ziemlich übertrieben findet, sieht schon anders aus.Die »expressive function of law«
Wie lässt es sich angesichts dieses Befunds erklären, dass mutmaßlich die meisten Bürger sich an die Corona-Regeln halten? Wenn wir alle rational handeln würden – was nicht mit »moralisch gut« verwechselt werden darf – würden wir ständig die Gesetze brechen, weil uns längst aufgegangen wäre, dass die Strafen nicht abschreckend, die Entdeckungswahrscheinlichkeit gering und der Erwartungsnutzen des Regelverstoßes höher ist als der der Regeleinhaltung. Trotzdem halten wir uns in der Regel an das Recht. Alexander Morell, ein Professor für das Fach »Law and Economics« in Frankfurt, macht uns auf die Theorie der »expressive function of law« aufmerksam. Etwas holprig übersetzt ist damit gemeint, dass das Recht nicht nur die Strafandrohung als eine Art Marktpreis für Fehlverhalten kennt, sondern bei den Bürgern auch die Verpflichtung ins Gewissen einpflanzt, ihrer Zustimmung zu den vom Recht gesetzten Normen und Regeln Ausdruck zu verleihen (»express«), indem sie sie befolgen. Oder einfacher gesagt: Wir sehen uns gerne als gesetzestreue Bürger und deshalb halten wir uns an das Gesetz, weil wir uns dann irgendwie gut vorkommen. Wenn die Regierung anordnet, dass sich ein Haushalt nur mit einem anderen Haushalt treffen darf, machen wir das auch so, obwohl die Entdeckungswahrscheinlichkeit in der privaten Wohnung gleich null ist. Scham und schlechtes Gewissen – eine Art »soziale Strafsteuer« – sind in ihrer Wirkung einer Geldbuße durchaus ebenbürtig.
Die Theorie der »expressive function of law« ist nicht unplausibel, lässt sich freilich auch relativieren als nachvollziehbares Wunschdenken von Rechtsökonomen, welche gerne hätten, dass Gesetze intrinsisch befolgt werden. Wir hören aus Italien, dass dort das Rauchverbot in Restaurants vor allem deshalb so rasch durchgesetzt worden sei, weil die jeweils anderen Wirte die Gesetzesübertreter eifrig denunziert hätten. Dass Corona die Denunziationslust – und -angst beflügelt hat, lässt sich kaum bestreiten: der autoritäre Charakter ist keine besonders sympathische menschliche Eigenschaft, zur Regelbefolgung aber ganz nützlich.
Vielleicht – auch diesen Gedanken verdanke ich Alexander Morell – sind die vielen völlig unübersichtlichen und in vielen Fällen auch völlig übertriebenen Corona-Regeln hierzulande der Preis dafür, dass unser Staat sich verbietet, alles über uns zu wissen. Der digitale »Big Brother« würde sogar das Denunziantentum obsolet werden lassen. Paradoxerweise kann ein totalitärer Überwachungsstaat, der alles über seine Bürger weiß, in der Pandemie mehr Freiheiten zulassen. Aber soll man diese Freiheiten wirklich Freiheit nennen? Oder gäbe es einen dritten Weg für einen demokratischen Rechtsstaat, der sich im Verhältnis zu seinen Bürgern abstinent verhält, sie nicht ständig gängelt und überwacht und zugleich mit Blick auf die Verhältnismäßigkeit des Regelwerks und auf die Eigenverantwortung der Bürger setzt? Genügend Diskussionsstoff jedenfalls für den nächsten Biergartenbesuch mit Freunden.
Rainer Hank
25. Mai 2021
Ran an die ReichenWarum eine Vermögenssteuer nichts bringt
»Wer hat, der gibt.« So lautet der Slogan einer Kampagne links-grüner Organisationen und ihnen gewogener Sozialwissenschaftler zu einem »Bündnis für Umverteilung«: »Die Reichen müssen für die Krise zahlen«, heißt die Forderung der Gruppe, zu der sich unter anderen Oxfam, Attac, Fridays for Future und der Paritätische Wohlfahrtsverband gesellen. Weil Reichtum unanständig ist, sollen die Millionäre jetzt für die Schäden der Corona-Pandemie zur Kasse gebeten werden.
Nun könnte man die Initiative als Nischenprojekt ignorieren, wären im September nicht Wahlen. Die Aktivisten bereiten für den 21. August, vier Wochen vor der Wahl, einen bundesweiten Umverteilungs-Aktionstag vor, der den Parteien ordentlich einheizen soll. Die Hitze ist jetzt schon zu spüren. Ich habe mich dem etwas speziellen Vergnügen ausgesetzt, die Parteiprogramme danach durchzukämmen, was aus den Wohlhabenden werden soll. Das Fazit: Sie könnten bald arm aussehen. Oder genauer: Sie sollten beizeiten nachdenken, wie sie ihr Vermögen in Sicherheit bringen.
In Umkehrung des Bündnis-Slogans lassen sich die Steuerkonzepte von Grünen, SPD und Linken unter dem Motto »Wer hat, dem wird genommen« zusammenfassen. Höhere Spitzensteuerätze beim Einkommen, mehr Erbschaftssteuer, Reichen-Soli bis zum Sankt Nimmerleinstag. Breiten Raum nimmt insbesondere die Wiedereinführung einer Vermögenssteuer ein.
Damit es übersichtlich bleibt, will ich mich hier auf diese Vermögenssteuer konzentrieren, die sich in allen Programmen der drei linken Parteien findet. Auf das Programm der Union warten wir noch. Die FDP hat am vergangenen Wochenende zu Protokoll gegeben, höhere Steuern zu verhindern (oder abermals nicht mitzuregieren). Und bei der AfD weiß man nie so genau, was sie will.
Die Ungleichheit der Vermögen nicht nicht zu
Nun also zu den Programmen der Grünen, der SPD und der Linken. Die Warnung vor R2G (»Rot-Rot-Grün«) ist mehr als Zweckpessimismus. In den aktuellen Sonntagsfragen kommen sie zusammen auf rund 47 Prozent Wählerstimmen. Die Vermögenssteuer ist eine sogenannte Substanzsteuer, würde also Jahr für Jahr auf den Reichtum erhoben, unabhängig davon, ob der sich mehrt oder schrumpft. Einkommens- oder Kapitalertragssteuer werden dagegen immer nur auf den Zugewinn fällig. Die Grünen und die SPD haben in ihren Programmen jeweils eine Vermögenssteuer von jährlich 1 Prozent oberhalb von zwei Millionen Euro Vermögen. Die Linken legen ein paar Schippen drauf: da wächst die Steuer von einem Vermögen von 50 Millionen Euro an auf fünf Prozent – das wären also 2,5 Millionen Euro jährlich. Außerdem soll es noch eine saftige Vermögensabgabe zur Behebung von Corona-Schäden geben, die sich, verteilt über 20 Jahre, auf bis zu 30 Prozent des Gesamtvermögens hochschaukelt.
Zur Begründung ihrer Pläne nennen die Grünen »die immer stärker werdende Ungleichheit« im Land, mit der sie sich nicht abfinden wollen. Bei der SPD steht im Vordergrund, »die Finanzkraft der Länder für wichtige Zukunftsaufgaben zu verbessern«. Wer viel hat, soll viel zahlen. Das ist die berühmte Antwort des Bankräubers Will Sutton auf die Frage, warum er Banken überfalle: »Because thats where the money is.« Um welche »Zukunftsaufgaben« es geht und warum die gigantische Neuverschuldung und die 2022 erwartbar wieder sprudelnden Steuereinnahmen dafür nicht ausreichen, mit solchen Nebensächlichkeiten halten die Parteien sich nicht weiter auf.
Stimmt es denn, dass die Vermögensungleichheit zunimmt? Und taugt eine Vermögenssteuer dazu, sie zu schrumpfen? Tun wir einmal so, als ließe sich das Vermögen der Deutschen einigermaßen exakt beziffern (die Statistik ist ziemlich windig) und befragen den in der vergangenen Woche erschienenen »Armuts- und Reichtumsbericht« der Bundesregierung. Mit insgesamt 7,8 Billionen Euro Bruttovermögen sind wir ziemlich reich. Und wir wurden immer reicher: Betrug das durchschnittliche Vermögen eines privaten Haushalts im Jahr 2008 noch 144 000 Euro, so waren es 2018 schon 194 000 Euro. Immobilien, mit 70 Prozent der wichtigste Teil des Vermögens, verbesserten sich in dieser Zeit im Wert um 41 Prozent, der Rest um sieben Prozent.
Produktivvermögen in Arbeitnehmerhand
»Wir« ist freilich relativ: Grob gesagt vereinen die reichsten zehn Prozent der Haushalte die Hälfte des Vermögens auf sich, während die untere Hälfte gerade einmal zwei Prozent hat. Doch geht die »Schere« auf? Der Reichtumsbericht widerspricht. Blickt man auf die Nettovermögen (das sind die Vermögenswerte abzüglich der darauf lastenden Schulden), so ist die Ungleichheit seit 2008 nicht größer geworden. Im Gegenteil: Der Gini-Koeffizient, der die Ungleichheit misst (0 heißt völlige Gleichheit, 1 heißt komplette Ungleichheit), ist von 0,75 auf 0,71 zurückgegangen. Die Autoren des Berichts führen dies auf steigende Arbeitseinkommen der ärmeren Schichten und zunehmenden Immobilienbesitz der Mittelschicht zurück. So viel, nur nebenbei, zur Behauptung, dass es in Deutschland heutzutage nicht mehr möglich sei, Wohneigentümer zu werden.
Nun könnte man mit gewissem Recht argumentieren, die Vermögensverteilung bleibe grob ungerecht, auch wenn die Ungleichheit seit über zehn Jahren nicht mehr zunimmt. Doch wäre eine Vermögenssteuer ein geeignetes Gegenmittel? Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), ein eher linkes, keynesianisches Institut, hat Zweifel, die mir einleuchten: Es fängt schon damit an, dass es außerordentlich aufwendig ist, einigermaßen exakt das individuelle Vermögen zu bewerten. Was mein Reihenhaus wert ist, weiß ich erst, wenn ich es verkaufe. Selbst wenn es gelänge, vergleichbare Kriterien zur Bewertung von Haus, Betrieb, Oldtimer und Picasso-Gemälde aufzustellen, würde bis zu einem Drittel der Steuereinnahmen gleich wieder von der Bürokratie aufgefressen. Zur Reduktion der Ungleichheit trüge das nicht bei, eher zum Aufblähen des Staates.
Mehr noch: die Reichen sind nicht blöd. Allein die Ankündigung einer Vermögenssteuer führe zu »Ausweichreaktionen«, schreibt das DIW. Das ist die Umschreibung dafür, dass Vermögen ins Ausland transferiert wird, um dem Fiskus zu entkommen. Als der sozialistische Staatspräsident François Hollande im Jahr 2013 eine Reichensteuer einführte, nahm der Schauspieler Gérard Depardieu flugs die russische Staatsangehörigkeit an. Und weil die Vermögenssteuer eine Substanzsteuer ist, die auf Betriebsvermögen auch in einer Rezession erhoben wird, müsste dies den Abschwung verstärken und Steuereinnahmen insgesamt mindern. Steuergesetze haben häufig (legale und weniger legale) Effekte, die ihre »gute« Absicht konterkarieren.
Es gäbe wirksamere Wege, die Ungleichheit der Vermögen zu verringern. Altmodisch hieß das früher »Produktivvermögen in Arbeitnehmerhand«. Blackrock & Co., jene erzkapitalistischen Vermögensverwalter, bieten ETF-Sparpläne, bei denen sich mit monatlich 100 Euro in dreißig Jahren ein Vermögen von knapp 100 000 Euro bilden lässt. Der Staat kann dies, wenn er mag, mit Freibeträgen fördern. Er kann sich zur Förderung von Wohneigentum klügere Dinge einfallen lassen als das zu Mitnahmeeffekten einladende Baukindergeld. Das und einiges mehr wären Ideen, Ungleichheit schlauer zu mindern als mit einer Vermögenssteuer. Allein, die linken Populisten wird man damit nicht erreichen.
Rainer Hank
19. Mai 2021
Warum liegen so viele Corona-Prognosen daneben?Treffen ist eben Glückssache
Corona-Prognosen liegen weit auseinander – und am Ende häufig daneben. Vor der Bundes-Notbremse hatten die Pessimisten Oberwasser. Sie prophezeiten einen dramatischen Anstieg der Todesfälle. Tatsächlich gab es die meisten Corona-Toten am 22. Januar mit 819 Fällen. Am 21. April, dem Tag vor Inkrafttreten der Bremse, waren es 331. Natürlich: Jeder Tote ist einer zu viel. Doch aus der rücklaufenden Todesrate lässt sich schwerlich ein Argument machen für eine Verschärfung der Maßnahmen. Im Februar 2021 verzeichnete Deutschland eine Untersterblichkeit, also im Saldo weniger Tote als in den Jahren 2016 bis 2019. Akademische Häretiker, wie der Mainzer Epidemiologe Sucharit Bhakdi, ärgern den akademischen Mainstream mit solchen Vergleichen schon seit Monaten. Die schlimmsten Wochen waren die Tage rund um Weihnachten 2020. Von da an ging es uns besser. Die Bundesnotbremse wurde gezogen, als der Infektionszug längst in die richtige Richtung rollte.
Warum treffen wir völlig unterschiedliche Entscheidungen auf ein und derselben Faktengrundlage? Wieso kommen zwei Fachleute, die über identische Informationen verfügen, zu komplett anderen Schlussfolgerungen? Und warum kann sogar ein Experte in Windeseile seine Meinungen ändern, wie etwa der Bundeshauptvirologe Christian Drosten, der, vom Pessimisten zum Optimisten gemausert, uns jetzt einen großartigen Sommer verspricht? Das sei auf die vielen Impfungen zurückzuführen, von denen es noch Ende April hieß, davon dürfe man sich keinesfalls eine rasche Entspannung erhoffen.
»Noise« versus »Bias«
Spannende Antworten auf unsere Frage bietet das neue Buch des Psychologen und Ökonomienobelpreisträgers Daniel Kahneman, das, gemeinsam verfasst mit Olivier Sibony und Cass Sunstein, am Montag unter dem Titel »Noise« in die Buchhandlungen kommt. Es geht Kahneman darum »was unsere Entscheidungen verzerrt – und wie wir sie verbessern können.«
Kahneman ist Mitbegründer der Verhaltensökonomie. Die steht für die Erkenntnis, dass die Menschen sich weitaus weniger rational verhalten, wie sie es selbst gerne täten. Nur zum Beispiel: Wir verschieben wichtige Entscheidungen oder neigen dazu, uns permanent selbst zu überschätzen. Wir können für unser Versagen sogar rationale Gründe anführen. Kahneman nennt dies »Bias«, eine konsistente Abweichung von einem Ziel. »Bias« ist unserer ganzen Gattung eigen.
Bei »Noise«, Kahnemans aktuellem Fokus, ist keine Gesetzmäßigkeit hinter den Fehlern zu erkennen. Die Streuung der Treffer ist breit. Es sind »nicht vorhersagbare Fehler«: In unserer Grafik (siehe zweites Bild der Foto-Galerie) ist der Unterschied von »Bias« und »Noise« am Beispiel von Einschüssen auf einer Zielscheibe dargestellt. Bias (oben rechts) zeigt eine regelhafte Abweichung nach links unten. »Noise« (unten links) ist ein chaotische Streuung fehl geschlagener Treffer; das Ergebnis ist »verrauscht«, »noisy«. Unten rechts haben die Schützen systematisch danebengeschossen, ihre Treffer sind aber weiterhin breit gestreut (»Bias« und »Noise«). »Bias« ist längst bekannt; »Noise« wird übersehen, unterschätzt, geleugnet. Wir tun so, als ob alle Wissenschaftler in ihren Urteilen übereinkommen müssten, weil sie doch alle die gleichen Fakten interpretieren und daraus Handlungsanweisungen ableiten. Abweichler werden »gecancelt«, am Ende stigmatisiert. »Das Unwissen wird geleugnet«, schreibt Kahneman – denn es wäre für den Wissenschaftler eine schwere Kränkung.
Wie wir die Welt verbessern können
Menschen meinen, dass ihre Mitmenschen die Welt genauso sehen wie sie selbst. Kahneman hat viele Beispiele für den Schaden, den »Noise« anrichtet. Straffällig gewordene Menschen erhalten für genau dieselbe Straftat völlig unterschiedliche Strafmaße – eine Freiheitsstrafe von fünf Jahren der eine, der andere bleibt zur Bewährung frei. Der eine Richter setzt auf Resozialisierung und verhängt eine milde Strafe, der andere setzt auf Abschreckung und geht an die obere Grenze. Stimmungen sind wichtig: Am Montag nach einer Niederlage der lokalen Footballmannschaft neigen Richter dazu, härtere Strafen zu verhängen.
In Versicherungen berechnen sogenannte Underwriter die Prämien für die Policen. Sie selbst meinen, eine Abweichung der Prämienkalkulation von zehn Prozent sei üblich und tolerabel. In Wirklichkeit kam Kahneman auf Unterschiede von 55 Prozent. Wenn der eine Underwriter eine Prämie von 9500 Dollar festsetzt, kostet der Vertrag beim zweiten 16 700 Dollar (und nicht nur 10 500). Wohlgemerkt: Beide berechnen aufgrund identischer Daten, nutzen die identischen Risikomodelle. Zu niedrige Prämien führen in die Pleite. Bei zu hohen Prämien wandern die Kunden ab.
Diagnosen von Ärzten weichen ähnlich breit gestreut voneinander ab. Entsprechend unterscheiden sich die Therapien. Es ist eine Lotterie, die über Schicksale von Menschen entscheidet.
Zurück zu Corona: Die Abweichungen der Experten sind sowohl von »Bias« wie von »Noise« geprägt. Direkt oder indirekt im Auftrag der Regierung arbeitende Fachleute tendieren je nach politischem Ziel zu Optimismus oder Pessimismus (»Bias«). Mediziner konzentrieren sich auf die Gesundheit; Sozialwissenschaftler raten zu breiteren Kosten-Nutzen-Erwägungen. Eine »Noise«-Streuung.
Wer die Welt verbessern will, muss »Noise« reduzieren. Kahneman hat kein Patentrezept. Doch seine Empfehlungen haben es in sich: »Noise« nicht zu verleugnen, wäre schon viel. Alle Urteile sollen in ihrer ganzen Streuung unabhängig voneinander transparent werden (»Noise-Audit«). Unabhängig ist wichtig. Denn Teambildung, in Coronazeiten sehr beliebt, verstärkt leider den Noise-Effekt: Pessimisten und Optimisten radikalisieren sich gegeneinander. Intuition ist genauso gefährlich wie die Dominanz von Herrschaftswissen. »Betrachten Sie den Fall aus der Außenperspektive«, rät Kahneman: »Versuchen Sie, gegen sich selbst zu denken!« Nicht leicht, aber lohnend: Skepsis und Bescheidenheit müssten sich miteinander verbünden.
Rainer Hank
10. Mai 2021
But, Schweiß und PatenteVerhindert Big Pharma eine gerechte Verteilung von Corona-Impfstoff?
Es gibt unterschiedliche Arten von Massenmord. Eine davon heißt »Patent«. Mit diesen beiden Sätzen beginnt der Schriftsteller Ilja Trojanow eine Kolumne in der »Tageszeitung« (taz). In einer Welt extremer sozialer Unterschiede entschieden Patente darüber, wer in der Pandemie überleben dürfe – und wer nicht.
Trojanows Attacke ist keine Einzelmeinung. Aktivisten bedrängen Mitarbeiter von Impfstoffherstellern, die Patente rauszurücken, um sich nicht am Tod von Menschen zu versündigen. Pharmapatente trügen Schuld an einer künstlichen und somit profitablen Verknappung des Impfstoffs gegen Covid-19. Viel mehr Impfstoff könnte hergestellt werden, gäbe es das Patentrecht nicht. Während Industrienationen sich Zweidrittel aller Impfstoffe gesichert hätten, eskaliere die Lage in der armen Welt.
Die meisten Impfstoffe gäbe es gar nicht, wäre ihre Erforschung nicht Jahrzehnte lang mit öffentlichen Milliarden finanziert worden, monieren die Patent-Kritiker. Warum sollen die Staaten für die Abnahme von Impfstoffen zahlen, die sie vorher bereits mit ihren Steuergeldern finanziert haben? Die private Aneignung öffentlichen Geldes wäre selbst in der kapitalistischen Logik eine Sünde: »Dieser Impfstoff gehört den Menschen«, rufen die Patent-Kritiker.
Mitte vergangener Woche schloss sich die amerikanische Regierung der Forderung Indiens und Südafrikas an, die Welthandelsorganisation (WTO) solle die Patente für Corona-Impfstoffe aussetzen (genannt »waiver«), um »so viele Impfungen so schnell wie möglich zu so vielen Menschen wie möglich zu bringen«. Das Ziel wird niemand infrage stellen wollen. Die Frage ist, ob ein »waiver« dafür das richtige Instrument ist. Die altruistisch klingende Initiative Amerikas ist schon deshalb scheinheilig, weil kein Land bislang so wenig Impfstoff exportiert hat wie die Vereinigten Staaten. Die deutsche Kanzlerin hält dagegen. Noch.
Die Profite gehören denen, die dafür ins Risiko gehen
Fakt ist: Noch nie wurde derart rasch ein wirksamer Impfstoff entwickelt wie in dieser Pandemie, und zwar von privaten Unternehmen. Der Eindruck ist irreführend, die Staaten hätten den Firmen die Forschung bezahlt. Es sind die Strüngmann-Milliardäre, die mit dem Verkauf des Generikaherstellers Hexal ein Vermögen gemacht haben, die das Biontech-Gründerpaar Türeci und Sahin finanzieren. Dort waren sie schon 2007 mit 150 Millionen Euro eingestiegen, um Krebsmedikamente zu entwickeln. Staatliche Unterstützung gab es erst, als es konkret um die Entwicklung von Corona-Impfstoff ging. Wenn der Staat sich jetzt mit 300 Millionen Euro am Tübinger Impfstoffentwickler Curevac beteiligt, dann partizipiert der Steuerzahler als Großaktionär an den Kursgewinnen. So gerecht geht es im Kapitalismus zu. Der Impfstoff gehört den Menschen. Die Profite aber gehören jenen, die dafür ins Risiko gehen.
Was aber ist mit den Patenten? Forschung und Entwicklung in der Pharmaindustrie sind geprägt von Versuch und Irrtum. Nicht jedes Projekt führt am Schluss zu einem wirksamen Arzneimittel. Allemal sind teure klinische Studien erforderlich, ein Umstand, welcher die Erforschung von Impfstoffen von der Entwicklung von Batterien unterscheidet. Um mit einem Medikament am Ende Geld zu verdienen, wurde vorher mit gescheiterten Medikamenten viel Geld verbrannt. Gäbe es nicht die Aussicht auf ein Patent, stünden wir heute ohne Biontech & Co. da. Damit leisten private Unternehmen in dieser Pandemie einen gesellschaftlichen Nutzen.
Ich will noch etwas grundsätzlicher werden. Patente sind Monopole auf Zeit. Sie geben einem Unternehmen das Recht, eine Erfindung exklusiv zu nutzen. Will ein Konkurrent es ihm gleichtun, muss er dafür Lizenzgebühren zahlen. Geistiges Eigentum einfach plagiieren, steht unter Strafe. Ob das in der Wirtschaftsgeschichte den Fortschritt gefördert oder als Demotivation eher gebremst hat, ist auch unter Liberalen strittig. Mondpreise kann das Patent-Unternehmen nicht verlangen. Wie wir derzeit sehen, verhindert das Patentrecht nicht, dass gleichzeitig mehrere substituierbare Impfstoffe auf den Markt kommen. Dies wirkt als Treiber, schneller ein Medikament zu entwickeln als die anderen (»First mover advantage«). Schon deshalb ist auch fraglich, ob ein Aussetzen der Patente Impfstoffe verbilligen würde.
Wie kann es überhaupt sein, dass inzwischen eine ganze Reihe von Impfstoffen verschiedener Hersteller auf dem Markt sind – trotz Patentschutz? Jetzt wird es kompliziert. Dafür hole ich mir Rat bei Reto Hilty in München. Er ist Direktor des Max-Planck-Instituts für Innovation und Wettbewerb und ein weltweit führender Fachmann für das Patentrecht. Hilty stellt klar: Es gibt im Moment noch gar keine erteilten Patente auf Covid-Impfstoffe. Das Prüfen der Patentanmeldung dauert nämlich oft Jahre. Lediglich für die dafür benötigte Grundlagentechnologie (etwa die »Spike-Proteine« der mRNA-Basis) müssen Lizenzen erworben werden. Diese Grundlagentechnologien indes haben noch andere vielversprechende Anwendungsbereiche, etwa in der Krebstherapie. Dass es ein Verteilproblem bei Corona-Impfstoffen gibt, liegt nicht am teuren Patentschutz, sondern hat andere Gründe. Würde man den Patentschutz für Corona-Impfstoffe aussetzen, würde man die weitere Krebsforschung gefährden, während in der Pandemie nichts gewonnen wäre. Fraglich wäre, ob die Forscher sich für künftige Entwicklungen abermals so ins Zeug legen würden wie bei der Entwicklung der Corona-Impfstoffe. Hilty warnt: »Wer in der Corona-Krise am Patentschutz rüttelt, spielt mit dem Feuer.«Patente bringen nichts, wenn es an Knowhow fehlt
Wenn es also nicht an Monopol-Preisen liegt, dass vor allem die armen Länder keinen oder wenig Impfstoff haben, woran liegt es dann? Es fehle im Moment an Produktionskapazitäten und dem Personal mit dem entsprechenden Knowhow, sagt Hilty. Dass das Geschäft relativ kompliziert ist, sieht man schon daran, dass auch Biontech/Pfizer auf Kooperationen mit Novartis oder Sanofi angewiesen ist – immerhin Weltkonzerne. Kenia oder Ghana die Lizenzgebühren zu erlassen, brächte gar nichts: Die Länder könnten trotzdem keinen Impfstoff herstellen.
Und Indien, jenes Land, das derzeit besonders gebeutelt ist? Indien verfügt selbst über eine starke Pharmaindustrie, die bis vor kurzem Millionen Dosen eines unter Lizenz von AstraZeneca produzierten Impfstoffes profitabel in die ganze Welt exportiert hat. Reto Hilty, mein Gewährsmann, weist darauf hin, dass Indien – die »Apotheke der Welt« – die führenden Hersteller von Generika (Nachahmerprodukten) beherbergt, die von der Aussetzung der Patente finanziell profitieren würden. So unschuldig, wie sie daherkommt, ist die WTO-Initiative also nicht. Für das Leiden Indiens unter der Pandemie sind nicht »böse« Patente verantwortlich, sondern die katastrophale Gesundheitspolitik von Ministerpräsident Narendra Modi.
Dass jetzt eine Gerechtigkeitsdebatte über das Impfen geführt wird, ist nötig. Sie als Kampf gegen die Patente zu führen, läuft komplett in die falsche Richtung. So lange nicht für die gesamte Weltbevölkerung Impfstoff da ist, nötigt die Knappheit zu Rationierung. Das ist ein ethisches, kein ökonomisches Problem: Wären die Deutschen bereit, aus ihren Steuern bezahlten Impfstoff nach Afrika zu verschenken und dafür zwei oder drei Wochen auf den Piks zu warten?
Rainer Hank