Hanks Welt

Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).

Aktuelle Einträge

  • 12. Juli 2021
    Das kalte Herz der Kapitalisten

    Ein Herz aus Stein Foto ivabalk/pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Verdirbt die Ökonomie den Charakter?

    Der Homo Oeconomicus hat keinen guten Leumund. Er gilt als egoistisch, nur auf den eigenen Vorteil bedacht. Großzügigkeit und Barmherzigkeit seien ihm fremd, heißt es. Er hat ein kaltes Herz.

    Der Wirtschaftshistoriker Werner Plumpe hat seiner monumentalen Geschichte des Kapitalismus den Titel »Das kalte Herz« gegeben. Wilhelm Hauffs gleichnamiges Märchen von 1827 wurde nicht erst von der DDR-Germanistik als Parabel auf den aufkommenden Kapitalismus gelesen, auch wenn es noch ganz in einer vorindustriellen Welt von Köhlern, Holzfällern und Flößern spielt. Immer schon war das steinerne Herz ein Sinnbild eines sündigen, gegen Gott verstockten Gemüts. Geld, Ansehen und Macht – im Doppelsinn blendende Aussichten auf eine glänzende Karriere – werden mit Herzenskälte assoziiert, während Nächstenliebe, Mitleid und Barmherzigkeit mit Wärme verbunden werden.

    »Capital« meinte lange Zeit schlicht Geld. Dass Geld sich vermehrt und »wuchert«, hat die Menschen irritiert. Wie bei Goethe im zweiten Teil des »Faust« stammt auch bei Wilhelm Hauff das Geld aus einem Pakt mit dem Teufel. Es blendet und verführt durch seinen güldenen Schein, führt letztlich ins Verderben. Herzenskälte konnotiert mit Frigidität und Unfruchtbarkeit. »Mutter, oh weh! Dein hartes Herz«, klagen die Ungeborenen in Hugo von Hofmannsthals »Die Frau ohne Schatten«.

    Das Studium der Ökonomie wäre in diesem Sinn eine Sozialisationsagentur frigider Herzenskälte. Altruisten werden zu Egoisten zwangskonvertiert, die alles und jedes einem Kosten-Nutzen-Kalkül unterziehen. Die Spieltheorie belehrt sie darüber, dass sich Kooperation nicht auszahlt und warum es in vielen Situationen gut sei, lieber seinem opportunistischen Vorteil nachzujagen. Für das Gemeinwohl werde die »unsichtbare Hand« schon von allein sorgen. »Welch ein Irrtum«, höhnen die Kritiker des Kapitalismus und verweisen auf Ungleichheit, Armut, Ungerechtigkeit in der Welt.

    John Stuart Mill und das Gesetz der Gravitation

    Liberale Ökonomen haben sich gegen solche Zerrbilder gewehrt. In seiner berühmten Rektoratsrede vom 1. Februar 1867 im schottischen St. Andrews kommt der Philosoph John Stuart Mill auf jene Leute zu sprechen, die Studenten vor dem Studium der politischen Ökonomie warnen: Herzlos, gefühllos, konfrontiere es einen mit unerfreulichen Fakten. Mill kontert mit Verweis auf die Physik: Das bei weitem Gefühlloseste, was er kenne, sei das Gesetz der Gravitation. »Es bricht den Besten von uns das Genick, wenn sie auch nur für einen Moment meinen, es ignorieren zu können.« Auch Wind und starke Wellen könnten ziemlich unerfreulich sein, so fährt Mill fort. Aber sollen wir deswegen die Seefahrer anweisen, die Existenz von Wind und Welle zu ignorieren? Wäre es nicht besser, die Naturgesetze zu studieren, um uns gegen die in der Natur lauernden Gefahren zu wappnen? Der Analogieschluss Mills von der Natur- auf die Sozialwissenschaft lautet: »Studiert die Schriften der ökonomischen Klassiker und behaltet davon, was euch wahr dünkt. Das Studium der Ökonomie wird euch keinesfalls zu Egoisten machen, es sei denn, ihr wäret schon vorher verhärtet oder egoistisch gewesen.«

    Ob Kapitalismus, Marktwirtschaft und das Studium der Ökonomie das Herz der Menschen verhärtet, lässt die Denker bis heute nicht los. Allerdings reicht dazu inzwischen die literarische oder philosophische Spekulation nicht mehr aus. Der Zeitgeist verlangt zwingend Empirie. Berühmt geworden sind vor ein paar Jahren die Experimente des Bonner Verhaltensökonomen Armin Falk. »Kapitalisten töten Mäuse«, so kann man seine These etwas marktschreierisch zusammenfassen. Das Design: Labormäuse, die sterben sollten, bekamen die Chance zu überleben, wenn die Versuchsteilnehmer in einem Experiment bereit waren, auf Geldgeschenke zu verzichten. Fragt man die Leute direkt, ob Sie zehn Euro bekommen wollen oder das Geld ablehnen, um die Maus zu retten, entscheiden sich zwar 45 Prozent egoistisch für das Geld. Doch die Altruisten behielten die Mehrheit. Ließ man die Versuchsteilnehmer stattdessen in einer Art Börse darüber verhandeln, einen vorgegebenen Geldbetrag von 20 Euro untereinander aufzuteilen oder auf Geld zu verzichten, bevorzugten 75 Prozent eine Geldlösung – und nahmen dafür den Tod vieler Mäuse in Kauf. Daraus folgt für Armin Falk: Der Markt verdirbt den Charakter.

    Die Mäuse führen in die Irre

    Das Mäuseexperiment erfuhr viel Kritik. Aus meiner Sicht zu Recht. Denn es besagt lediglich, dass es in Gruppen einen Loyalitäts- und Konformitätsdruck gibt. Das wissen wir seit dem berühmten Milgram-Experiment, bei dem Menschen bereit waren, autoritären Anweisungen Folge zu leisten, obwohl die Handlungen ihrem Gewissen zuwider liefen. Das hat erkennbar mit Markt und Kapitalismus nichts zu tun hat. Es liegt nicht am Markt, dass die Moral in Gruppen leidet, sondern am Konformitätsdruck.

    Das löst freilich noch nicht die Frage, ob altruistische Menschen durch die Beschäftigung mit Ökonomie egoistisch werden. Der Züricher Ökonom Bruno Frey, der schon in der vergangenen Woche in meiner Kolumne vorkam, hat dazu eine originelle Studie vorgelegt, die auf »reales« Material zurückgreifen kann. An der Universität Zürich müssen die Studenten jedes Semester entscheiden, ob sie an zwei von der Hochschule verwaltete wohltätige Fonds Geld spenden wollen. Das kann man als ein Maß für Altruismus nehmen. Frey diskutiert zwei konkurrierende Hypothesen. Die »Indoktrinationshypothese« besagt, dass die Ökonomie Studenten dazu bringt, eigennütziger zu denken und handeln als zuvor. Die »Vorprägungshypothese« kehrt die Kausalität um: Eigennützige Studenten entscheiden sich dazu, Ökonomie zu studieren.

    Das Ergebnis ist doppelt überraschend: Studenten der politischen Ökonomie und Volkswirtschaftslehre (VWL) spenden mehr und nicht weniger für die wohltätigen Fonds, verhalten sich sogar altruistischer als der durchschnittliche Student. Studenten, die Management studieren, sind hingegen deutlich selbstbezogener, was Bruno Frey nicht auf das Studiums selbst zurückführt, sondern die persönlichen Prägungen, mit denen die Management-Studenten an die Hochschule kommen. Dort, wo man mehr ökonomische Theorie lernt, also in der Volkswirtschaftslehre, gibt es mehr Altruismus als in den theorieschwächeren Managementkursen. Gut für Volkswirte, weniger schmeichelhaft für die künftigen Manager.

    Eine kürzlich an der Universität Amherst in Massachusetts präsentierte Studie (»Does economics make you selfish«) bestätigt die Ergebnisse von Bruno Frey. Allerdings: Ökonomiestudenten sprechen sich für eine deutlich restriktivere Einwanderungspolitik aus als Kontrollgruppen der Ernährungswissenschaft. Die Ökonomen meinen, Migranten sollen nur kommen dürfen, wenn klar ist, dass sie einen positiven Beitrag für das Gastland leisten werden. Das kann man gefühlskalt nennen, man kann es auch realistisch nennen.

    Fazit: Die Beschäftigung mit Ökonomie lässt das Herz der Menschen nicht erkalten, sondern schärft den Realitätssinn für Fragen von Kosten und Nutzen. Der Markt selbst generiert Moral, meinte Adam Smith, der Begründer der liberalen Ökonomie: Betrüger, Hochstapler und Hallodris haben auf Dauer keine Chance, weil im eigenen Interesse niemand mit ihnen Geschäfte machen will.

    Rainer Hank

  • 05. Juli 2021
    Bauen wir zwei, drei, viele Venedigs!

    Gelateria Nico mit Gianduiotto Eis Foto visitvenezia

    Dieser Artikel in der FAZ

    Es ist eine Lust, wieder zu reisen. Aber es könnte voll werden.

    Jetzt waren also auch wir in Venedig. Bei »Gelato Nico«, an der Bootshaltestelle Zattere auf Dorsoduro, ließ sich das allmähliche Erwachen der Lagunenstadt wunderbar beobachten. Zu Anfang der Woche war es selbst am späteren Nachmittag dort noch still, so als ob die Saison noch gar nicht eröffnet wäre, obwohl die Sonne des späten Junis es leicht auf 33 Grad im Schatten schaffte. Gegen das Wochenende hin wurde es dann immer wuseliger. Was wir erst hinterher erfuhren: »Nico«, für Venezianer eine Institution, eilt der Ruf für das beste Eis in der Stadt voraus. Mir fehlt der Überblick, doch ich bürge, dass das Gianduiotto – eine Art Nougateisblock im Becher zusammen mit viel Sahne – wirklich der Hammer ist.

    Wir müssen wieder lernen, Menschen zu betrachten. Im Lockdown war das kaum möglich, weil wir alle in unseren Häusern eingesperrt waren. Jetzt kommen die Menschen aus ihren Löchern heraus, zuallererst die Italiener selbst, denen in diesem Jahr noch nicht einmal erlaubt war, ihren Carneval zu feiern. Franzosen sind da, Deutsche sowieso und natürlich die Schweizer. Es fehlen die Briten (wegen Delta), es fehlen die Amerikaner und die Asiaten. Das Bild an Zattere ist europäisch. Fast will es uns scheinen, als hätten sich alle zur Wiedereröffnung der Stadt besonders herausgeputzt. Junge, schöne Menschen, die sich einander von der attraktivsten Seite zeigen: Ein ausgelassenes Vergnügen bunter Menschlichkeit, pure Freude am wiedergeschenkten Leben.

    Der Tod in Venedig

    Gegenüber von Dorsoduro, auf der anderen Seite des Giudecca-Kanals, blicken wir auf Andrea Palladios Renaissance Redentore-Kirche. Am 4. September 1576 gelobte der Senat von Venedig den Bau einer Kirche zu Ehren des Erlösers (italienisch: Redentore), sobald die Stadt von der Pest frei sein würde, an der etwa ein Viertel der damaligen Bevölkerung, fast 50000 Menschen, gestorben waren. Im Sommer 1577 war die Seuche tatsächlich verschwunden. Seither wird zum Dank am dritten Sonntag im Juli ein Fest mit opulentem Nachtmahl und Feuerwerk gefeiert. Es würde mich wundern, fiele es in diesem Jahr nicht besonders ausgelassen aus.

    Überhaupt ist mir klar geworden, wie sehr diese Stadt des Vergnügens, der Musik und der Feste zugleich – quasi ihre Nachtseite – eine Stadt der Pandemien ist. Um eine erste große Seuchenwelle im 14. Jahrhundert einzudämmen, beschloss man, ankommende Schiffe vierzig Tage lang im Hafen zu isolieren. Das war die Erfindung der Quarantäne, der wir bis vor einem Jahr als einer archaisch wirkenden epidemiologischen Maßnahme wenig Beachtung entgegengebracht hätten. Jetzt habe ich Thomas Manns »Tod in Venedig« noch einmal aus dem Bücherschrank geholt. Seit der Schullektüre und der durch Gustav Mahler etwas arg schwülstig geratenen Visconti-Verfilmung von 1971 habe ich die Geschichte nicht mehr beachtet: Dass die Katastrophe durch eine aus Indien eingeschleppte Cholera-Epidemie ausgelöst wird, der auch Gustav von Aschenbach, der Held, zum Opfer fällt, hatte ich nicht mehr so präsent.

    Spätestens nach dem Redentore-Fest in zwei Wochen wird von diesen dunklen Dingen niemand mehr etwas wissen wollen. Es wird schon seine Gründe haben, warum die Erinnerung an die Spanische Grippe vor hundert Jahren tief vergraben war und erst jetzt mit Corona wieder hervorgekramt wurde. Kollektives Vergessen ist offensichtlich nicht minder wichtig als kollektives Erinnern.

    Lange wird es ohnehin nicht mehr dauern, bis die neue Normalität die alte Normalität Venedigs sein wird: Ihr Name ist Massentourismus. Dazu will natürlich niemand gehören, ich auch nicht. Alle zusammen summieren wir uns auf jährlich 30 Millionen Besucher, wofür die jetzt schon wieder präsenten dicken Kreuzfahrschiffe im Giudecca-Kanal das sichtbare Zeichen sind, die freilich statistisch nur einen geringen Teil der Touristen ausmachen. Dazu kommen die AirBnB-Touristen, die in den Appartments der Venezianer übernachten, welche ihrerseits die Stadt verlassen haben, oder die reichen Bürger aus Mailand, die sich Zweit- oder Drittwohnungen in der »Serenissima« gekauft haben. Der Effekt war vorhersehbar und wird seit Jahren diskutiert: Immer mehr Fremde, immer weniger Einheimische. Die Zahl der »echten« Venezianer in der alten Stadt hat sich binnen vierzig Jahren von 100 000 auf 50 000 halbiert; jedes Jahr werden es 1000 weniger, so dass man ausrechen kann, wann die Touristen die Stadt übernommen haben werden – spätestens im Jahr 2070. Dabei finden nicht wenige, Venedig – »halb Märchen, halb Fremdenfalle« (Thomas Mann) – gleiche heute schon einer Art historischem Disneyland, irgendwie auf natürliche Weise unwirklich und mit einem Haufen ökologischer Probleme, zu denen die dicken Schiffe mehr beitragen als zu den touristischen Schäden. Na ja, mich hat dieser Pessimismus nie richtig überzeugen können.

    Bruno Frey hat eine geniale Idee

    Seit Jahren wird diskutiert, ob und was die Stadt gegen den »Overtourism« unternehmen könnte. Jetzt droht die Unesco mit ihrer »roten Liste« gefährdeter Weltkulturstätten. Allzu abschreckend sollten die Maßnahmen nicht sein, finden viele Händler gerade jetzt, denn schließlich müssen die Touristen die Umsatzverluste des letzten Jahres wettmachen. Das Schlagwort vom »qualitativen Tourismus« macht die Runde. Gemeint ist wohl: Weniger Fremde, die dafür mehr Geld in der Stadt lassen. Das ließe sich kombinieren mit hohen Eintrittspreisen, was die Stadt dann aber vollends zu einem Kulturmuseum für die Reichen machen würde.

    Der Schweizer Ökonom Bruno Frey, einer der Kreativsten seiner Zunft, will nicht die Nachfrage rationieren, sondern das Angebot ausweiten, ein ziemlich frivoler Vorschlag. Die Idee dahinter: Wir bauen ein zweites, neues Venedig, quasi als Kopie nicht allzu weit entfernt von der Lagunenstadt. Statt von Kopie spricht Frey lieber von »neuen Originalen«, die mit digitaler Technik zusätzlich Originalerlebnisse und »augmented reality« bieten könnten. Antonio Vivaldi könnte seine Kompositionen live zum Besten geben, Giacomo Casanova würde auftreten und den Besuchern von seinen Liebesabenteuern berichten. Die Idee ist typisch ökonomisch gedacht, aber nicht so absurd, wie sie sich anhört. Altamira und Lascaux, die bemalten Höhlen der menschlichen Frühgeschichte, dürfen Touristen nur im künstlichen Duplikat betrachten. Originalität sei ein Mythos, meint Bruno Frey: Der Campanile auf dem Markusplatz, 1902 von Erdbeben und Unwetter zum Einsturz gebracht, wurde, was die wenigsten wissen, anschließend völlig neu errichtet – streng nach seinem Vorbild aus dem Jahr 911. Das sei auch nichts anderes als ein »neues Original«, so Frey.

    Doch das mit dem Capanile wissen die Fachleute: Wir Laien geben uns der Illusion der Originalität hin. Im »zweiten Venedig« wäre das schwierig. Da müssten wir uns wie in Las Vegas fühlen. Das mag ökologisch, ökonomisch und touristisch eine gute Lösung sein. Aber würde funktionieren? Und was machen wir mit Nico, dem Eiskonditor? Kriegt er einen Doppelgänger im zweiten Venedig? Und das Salzwasser des Kanals, das an meinem letzten Abend nach einem Gewitter über das Ufer schwappte und die Füße in den Sandalen nass machte? Sage niemand, dass seien Details, die für die Disneyländer irrelevant seien.

    Rainer Hank

  • 29. Juni 2021
    Kapitalismus und Sklaverei

    Foto orythys auf pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Wie sehr beruht unser Wohlstand auf der Ausbeutung Afrikas?

    Sklaverei, Kolonialismus und Genozid sind die tragenden Fundamente, auf denen der Wohlstand des Westens beruht. Die europäische Aufklärung war in Wirklichkeit zutiefst imperialistisch. So steht es in einer gerade erschienenen Studie des Sozialwissenschaftlers Kehinde Andrews, er ist Professor für »Black Studies« an der Birmingham City University. Sein Buch trägt den Untertitel »Wie Rassismus und Kolonialismus bis heute die Welt regieren«.

    Die postkoloniale Dekonstruktion der Aufklärung folgt einem modischen Trend. Das muss nicht bedeuten, dass sie falsch ist. Zumal die Frage eines Zusammenhangs zwischen dem Erfolg des Kapitalismus und dem rassistischen Kolonialismus zwar immer schon zum Standardrepertoire marxistischer Analysen gehörte, in den aktuellen identitätspolitischen Debatten, soweit ich sehe, aber eher am Rande traktiert wird. Der Kapitalismus hat in liberalen Kreisen einen guten Leumund, solange man darunter Arbeitsteilung, Freihandel und den Wohlstand der Nationen versteht. Wie kann es sein, dass die freiheitsliebenden Europäer über Jahrhunderte kein Problem hatten mit freiheitsunterdrückender Sklaverei? In Jane Austins Roman »Mansfield Park«, kurz nach dem britischen Verbot des Sklavenhandels 1807 erschienen, erkundigt Fanny Price, die Heldin, sich nach Sir Thomas Bertrams Zuckerplantagen in der Karibik, wo Schwarze Sklavenarbeit leisten mussten. Totenstille (»dead silence«) sei die Antwort gewesen, heißt es im Roman.

    Könnte es sein, dass diese Totenstille bis heute ein blinder Fleck der Wirtschaftsgeschichte ist? Bei schwarzen Sklaven denken wir an die USA und vergessen gerne, in welchem Maße England, Frankreich und Holland vom 16. bis in das 19. Jahrhundert vom Sklavenhandel lebten – und auch die Deutschen davon zumindest indirekt profitierten. Allein in den westindischen Kolonien Britanniens in der Karibik – dazu zählten unter anderem die Bahamas, Barbados, Trinidad und Tobago – arbeiteten Ende des 18. Jahrhunderts 520000 in Afrika gekaufte Sklaven unter menschenunwürdigen Bedingungen, vorwiegend auf Zuckerplantagen, aber auch in Tabak- und Baumwollplantagen. Der Reichtum Englands beruhte in dieser Zeit fraglos zu großen Stücken auf der Ausbeutung seiner mittelamerikanischen Kolonien. Der Zucker versüßte den vornehmen Gesellschaften Englands den Tee. Und Rauchen galt als Medizin. Monopolistisch organisierte Handelsgesellschaften organisierten alles aus einer Hand: Sie hatten Zugriff auf die Plantagen, den Import der Sklaven und den Export von Tee, Tabak, Kaffee und Baumwolle nach England.

    Rassismus ist die Folge der Sklaverei, nicht ihre Voraussetzung

    War also der Kapitalismus auf Sklavenhandel und -haltung zwingend angewiesen? Adam Smith, der Vater der modernen Ökonomie, bestreitet dies in seinem berühmten Hauptwerk über den »Wohlstand der Nationen« von 1776 – und zwar mit ökonomischen, nicht mit moralischen Argumenten. Obwohl Sklavenarbeit die billigste Arbeit zu sein scheine, weil sie lediglich die Aufrechterhaltung der physischen Existenz des Sklaven koste, sei sie in Wirklichkeit doch die teuerste Produktionsweise, schreibt der Ökonom: Denn der Sklave müsse zwingend daran interessiert sein, so viel wie möglich zu essen und so wenig wie möglich zu arbeiten. Freie Arbeiter, denen ein Lohn gezahlt werde, seien in Wirklichkeit viel produktiver als Sklaven.

    Das Wort des liberalen Ökonomen hören wir gerne. Allein, die Wirklichkeit sah anders aus. Warum? Dazu sollte man das Standardwerk des Historikers Eric Williams »Capitalism & Slavery« befragen. Williams entstammte der kreolischen Elite aus Trinidad, promovierte in den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts in Harvard und war später Premierminister der unabhängigen Republik Trinidad und Tobago. Dort gilt er heute als »Vater der Nation«.

    Williams› Buch enthält zwei Thesen. (1) Sklaverei ist nicht die Folge von Rassismus, sondern umgekehrt: Rassismus ist die Folge der Sklaverei. Denn Rassismus rationalisiert das unmenschliche Verhalten der Sklavenhalter. Minderwertige, infantile Menschen brauchte man nicht menschenwürdig behandeln, es reicht sie zu missionieren. Die ersten Sklaven auf den Zuckerplantagen waren keine Schwarzen, sondern zunächst Indigene – Williams nennt sie »Indianer« – und anschließend Weiße. Die strukturelle Knappheit an Arbeitern setzte einen Anreiz für die Landbesitzer, Menschen zur Arbeit zu zwingen. Wichtiger als das Land zu kontrollieren war es für die Landeigentümer, die Leute zu kontrollieren. Rechtlose Leibeigene, konnte man besonders gut kontrollieren. In den Plantagen beruhte der wirtschafte Erfolg auf ökonomischen Skaleneffekten, mithin dem Einsatz von Tausenden Sklaven.

    Der Segen des Freihandels

    Daraus folgt die These (2): Nicht nur die Einführung der Sklaverei, sondern auch ihre Abschaffung erfolgte aus ökonomischen, nicht aus moralischen Gründen. Unersetzbar im 17. und 18. Jahrhundert zur Schaffung des Wohlstands in Europa, begann das westindische Monopol auf Sklavenhandel und -haltung zu Beginn des 19. Jahrhunderts aus ökonomischen Gründen zu stören. Der Idee des Freihandels und des Wettbewerbs waren Monopole zuwider. Seit Beginn der industriellen Revolution waren die Zuckerplantagen in der Karibik nicht mehr die Quelle des Wohlstands. Technische Erfindungen führten zu ungeahnten Produktivitätsgewinnen in den Fabriken Englands, deren Arbeiter lausig bezahlt wurden und miserabel leben mussten, aber eben keine Sklaven, sondern Lohnarbeiter waren. Für die modernen Industriekapitalismus hat Adam Smith somit Recht: er konnte aus ökonomischem Eigeninteresse die Abschaffung der Sklaverei betreiben.
    Antisklaverei ist somit das Erbe jenes Kapitalismus, der die Sklaverei zuvor nötig hatte. Eric Williams hat – wenig überraschend – viel Widerspruch provoziert unter jenen Historikern, welche nicht die Ökonomen, sondern die Moralisten und christlichen Evangelikalen des frühen 19. Jahrhunderts dafür verantwortlich machen, dass England 1807 den Sklavenhandel und 1831 die Sklavenhaltung verboten hatte (und die Sklavenhalter im Übrigen fürstlich entschädigte). Industrielle Revolution und Abolition verlaufen in der Tat zeitlich synchron, so dass es nicht ganz einfach ist, Kausalitäten nachzuweisen. Womöglich war es auch eine Mischung von Moral und ökonomischem Gesetz, welche der Sklaverei den Garaus gemacht haben. Doch als Held der Forschung ist Eric Williams inzwischen voll rehabilitiert, wie der Soziologie Krishan Kumar in einem Literaturbericht im Times Literary Supplement vom 21. Mai gezeigt hat.

    Zurück zu meiner Ausgangsfrage. Der Kapitalismus war aus ökonomischen Gründen auf Sklavenarbeit angewiesen. Rassismus war die Folge davon. Und: Der Kapitalismus hat sich aus ökonomischen Gründen von der Sklaverei getrennt, doch der Rassismus ist in der Welt geblieben. Man kann den Kapitalismus für die Abschaffung der Sklaverei dann und nur dann feiern, wenn man ihm an der Erfindung der modernen Sklaverei zuvor die Mitschuld gibt. Langfristig hat sich nicht der ausbeutend-extraktive, sondern der partizipativ-inklusive Kapitalismus durchgesetzt. Auch das ist kein moralisches, allenfalls ein ökonomisches Verdienst – indes mit der von den Kapitalisten unintendierten Folge, dass die Arbeitswelt heute moralisch besser geworden ist.

    Rainer Hank

  • 24. Juni 2021
    Lügen mit der Corona-Statistik

    Maskiert für immer? Foto Juraj Varga/pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Warum sogar ein steigender R-Wert ein gutes Zeichen sein kann

    Vergangene Woche, am 15. Juni, wird gemeldet, dass in Deutschland 93 Menschen mit oder an Covid-19 gestorben sind. Fünf Monate zuvor, am 19. Januar, wurden 1734 Tote mit oder an Covid registriert. Ist die Meldung vom 15. Juni eine gute Nachricht? Kommt darauf an. Man kann das verneinen, weil hinter jedem einzelnen Tod ein individuelles Schicksal steckt, das sich nicht aufrechnen lässt. Zehn Tote sind nicht »besser« als fünf Tote. Man kann aber sagen, relativ zum Januar steht Deutschland im Juni deutlich besser da. Man könnte sich zum Vergleich die Zahlen der Corona-Toten in anderen Ländern anschauen, sie auf jeweils 100 000 Einwohner beziehen, um dann zu entscheiden, ob Deutschland relativ zu anderen Ländern eher gut oder eher mittel durch die Krise gekommen. »Ziemlich gut«, würde das Ergebnis lauten – jedenfalls was die Todeszahlen angeht. Schließlich könnte man sich fragen, wie viel Menschen in diesem Zeitraum »überlebt« haben, weil es in Corona-Zeiten weniger Verkehrs- und Influenza-Tote gab. Daraus ließe sich die »Übersterblichkeit« berechnen.

    Ich kann mich nicht erinnern, jemals derart auf Zahlen fixiert gewesen zu sein wie im vergangenen Jahr. Corona hat uns nicht nur zu einer Nation von achtzig Millionen Virologen gemacht, sondern auch zu einem Land millionenfacher inkompetenter Statistiker. Ich hoffe, die Deutsche Mathematiker Vereinigung (DMV) hat die Chance für ihr Fach erkannt: Wer sich oder seinen Kindern klar machen will, dass wir in der Schule für das Leben lernen, soll sich an das vergangene Jahr erinnern. Da wurde anschaulich, welchen Beschleunigungseffekt exponentielle Entwicklungen haben. Und dass Maßnahmen wir gut daran tun, Statistik ernst zu nehmen. »Es ist leicht, mit Statistik zu lügen. Noch leichter lügt es sich ohne Statistik«, so der Statistiker Frederick Mosteller.

    Mathe ist nicht gerade meine Stärke. Im Abitur war das noch anders. Zum Glück muss ich mich nicht verstecken: Selbst gute Mathematiker behaupten von sich, sie seien in Mathe nicht gut. Um die Corona-Pandemie besser zu verstehen, sollte man wissen, was Zahlen sagen und was sie nicht sagen. Ohne Kontext sagen Zahlen wenig. Kontexte stellt man her, indem man Zahlen auf andere Zahlen bezieht. Wenn man Glück hat, wird Erkenntnis daraus.

    Was ein Durchschnittswert sagt – und was nicht

    Der Kontext ist das eine. Der Durchschnitt ist das andere. Mein Schrecken angesichts der Meldung, die Corona-Pandemie habe bei uns allen zu einer Gewichtszunahme von 5,5 Kilo geführt, drehte sich in stolze Zufriedenheit nach einem Check auf der Waage. Ob an meiner Stelle jemand anderes um elf Kilo schwerer geworden sein könnte?

    Wie tricky Zahlen überhaupt sind, habe ich gemerkt bei der Lektüre des gerade erschienenen Buches der Statistik-Experten Tom & David Chivers, das den schönen Titel trägt: »How to read numbers« (Wie man Zahlen liest). Das Buch liest sich vergnüglich, verlangt keine mathematischen Voraussetzungen, sondern lediglich einen klaren Kopf und bringt am Ende viele Aha-Erlebnisse.

    Sie erinnern sich an R? Steigt R, ist das schlecht, fällt R, ist das gut. R ist die Reproduktionsrate von irgendetwas. Sie kann sich auf die Verbreitung von Menschen, auf Internet Memes oder eben Covid-Viren beziehen. R sagt, wie viele Menschen durchschnittlich infiziert werden von einem, der mit Covid infiziert ist. R ist also auch ein Durchschnitt wie meine 5,5 Kilo, die ich nicht zugenommen habe. Ein R-Wert von fünf kann bedeuten, dass von hundert Menschen jeder fünf weitere infiziert. Ein R-Wert von fünf kann aber auch bedeuten, dass 99 Menschen niemanden infizieren, dafür aber einer allein 500 infiziert.

    Was ich nicht wusste: R kann größer werden und das ist trotzdem eine gute Nachricht. Dahinter verbirgt sich Simpsons Paradox. Das geht so: Stellen wir uns 100 infizierte Personen in Pflegeheimen und 100 Infizierte in privaten Haushalten vor, wobei jeder Pflegfall drei weitere und jeder im Privathaushalt zwei weitere Personen ansteckt. Der Durchschnitt des R-Wertes von 3 und 2 ergibt 2,5. Anschließend gibt es einen Lockdown, worauf R in den Privathaushalten schneller zurückgeht als in den Pflegheimen. 90 Infizierte in den Heimen geben den Virus im Schnitt an 2,9 Gesunde weiter. 10 Infizierte in Privathaushalten geben ihn an nur 1 Person weiter: 90 mal 2,9 plus 10 mal 1, geteilt durch 100 ergibt 2,7. Das Paradox: Obwohl in beiden Gruppen der R-Wert gefallen ist (von 3 auf 2,9 in den Heimen und von 2 auf 1 in den Haushalten), steigt er insgesamt von 2,5 auf 2,7. Wer meint, ein steigender R-Wert sei immer schlimm, hat sich getäuscht. Solche »Täuschungen« hat es tatsächlich in den Corona-Monaten häufig gegeben.

    Der Schlüssel für Simpsons Paradox

    Simpsons Paradox lässt sich übrigens nicht nur auf den R-Wert in Corona-Zeiten anwenden. So kann es sein, dass der Durchschnittslohn in einem Land steigt, während im selben Zeitraum das Lohnniveau in allen Arbeitnehmergruppen sinkt: unter Beschäftigten ohne und mit Hauptschul-, Gymnasial oder Universitätsabschluss. Die Erklärung: Zwar sinken überall die Löhne, aber die Zahl der Beschäftigten mit Universitätsabschluss nimmt zu. Da höhere Bildung zu höherem Einkommen führt, steigt das Lohnniveau insgesamt an. Linke Interpreten können eine Niedergangsstory stricken, konservative Kreise sprechen von einer Erfolgsgeschichte. Beide Gruppen beziehen sich auf dieselben Daten: beide haben recht oder unrecht, wie man es eben sieht.

    Statistik derart unterhaltsam dargereicht macht süchtig. Hier nur noch ein paar Lieblings-Aha-Erlebnisse. Die Meldung, täglich eine zusätzliche Scheibe Speck zum Spiegelei zu essen, erhöhe das Krebsrisiko um 20 Prozent, macht Angst. Wenn ich aber weiß, dass das Krebs-Risiko des durchschnittlichen Speck-Essers bei sieben Prozent liegt, bedeuten 20 Prozent von 7 lediglich weitere 1,4 Prozentpunkte. Mithin erhöht sich das Risiko von 7 auf 8,4 Prozent – nicht Nichts, aber auch kein richtiger Aufreger. Mit der Angabe von relativen Risiken lässt sich nichts anfangen, sofern man nicht das absolute Risiko kennt.

    Dass Korrelation und Kausalität leicht durcheinander purzeln können, weiß ich. Wer das übersieht, den kann man mühelos davon überzeugen, dass Schnarchen durch das Essen von Fischstäbchen verursacht wird. Dass Prognosen (Wetter, Wachstum) die Angabe eines Unsicherheitsintervalls erfordert, macht sie redlich, aber auch langweilig. Zu wissen, dass sich mit der Wahl des zeitlichen Anfangspunktes einer Datenreihe fast jede beliebige These belegen lässt, macht einen ebenfalls vorsichtiger. Wie trickreich Goodharts Law funktioniert, kann ich hier nur andeuten: Gute Ziele verwechseln wir mit irgendwelchen Messgrößen, mit denen sie erreicht werden sollen. 60 Prozent Staatsschulden (Maastricht-Kriterium) sind kein Ziel an sich, das Ziel ist eine disziplinierte Haushaltspolitik.

    Wir Journalisten kommen bei den Statistikern nicht besonders gut weg: Nicht genug, dass wir häufig Zahlen ohne Kontext präsentieren, führt die »Nachfrage nach Neuigkeit« zu einer Verzerrung der Wirklichkeit (»Mann beißt Hund« ist eine super Meldung. »Hund beißt Mann« ist langweilig und also keine Meldung). Wenn es also gut geht, führt die Corona-geschuldete Einsicht in den Nutzen von Statistik auch zu besserem Journalismus.

    Rainer Hank

  • 17. Juni 2021
    Kaviar statt Butterbrot

    Kaviar auf Wachtelei Foto pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Jetzt das Geld ausgeben, sonst ist der Sommer schon wieder vorbei

    Die Impfkampagne wirkt wie ein Konjunkturprogramm. Dieser bemerkenswerte Satz steht in einem Ausblick auf die Welt nach Corona, den die OECD, der Club der reichen Industrieländer, kürzlich veröffentlicht hat. Daraus lässt sich dreierlei ableiten: Je besser und schneller ein Land die Impferei hinbekommt, umso schneller geht es mit der Wirtschaft bergauf. Je besser das Impfen funktioniert, umso mehr Freiheit gewinnen wir zurück. Und schließlich: Dass überhaupt geimpft wird, ist ein großer Erfolg des Kapitalismus und seiner die Freiheit und die Menschenleben rettenden Kreativität. Wer wie der Grünen-Chef Robert Habeck meint, der Kapitalismus habe in der Pandemie versagt, weil der Markt im Frühjahr 2020 nicht gleichzeitig jedem weltweit eine Maske zum Nulltarif angeboten hat, sollte sich das Impfwunder zu Gemüte führen.

    Die Freude über Freiheit und rückläufige Inzidenzen ist seit den sonnigen Tagen mit Händen zu greifen. Unsere Corona-Gereiztheit lässt nach, weicht einer Stimmnung freudiger Gelassenheit. »Back to normality« ist das Schlagwort der Stunde. Alles schnell öffnen, verlangt der bayerische Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger: »Sonst ist der Sommer schon wieder vorbei.« Das trifft unsere Ungeduld gut.
    Es gibt Zeitgenossen, die uns einreden wollen, wir dürften jetzt nicht zurück zur Normalität. Bescheidenheit, Askese und die Reduktion des Lebens auf die wahren und echten Bedürfnisse seien das Gebot der Stunde: Bayern statt Bali, Butterbrot statt Beluga-Kaviar. Das würde den Propheten der Askese so passen. Was meine »wahren« Bedürfnisse sind, will ich schon selbst entscheiden. Wer meint, dafür gäbe es ein objektives Maß, verfolgt im Grunde nur ein Umerziehungsprogramm nach seinen eigenen Normen. Anmaßende Verhaltenslenkung im Gewande der moralisch guten, ökologisch korrekten Erwachsenenpädagogik.

    Inzwischen häufen sich kluge Analysen, die erwarten, dass wir den Roaring Twenties des 21. Jahrhunderts entgegengehen. Dafür spricht das vitale Bedürfnis, endlich wieder in vollen Zügen zu leben. Dem gesellen sich ökonomische und historische Fingerzeige hinzu. Schaut man sich die Wachstumsprognosen des Internationalen Währungsfonds an, so wird in allen G-7–Ländern in diesem Jahr ein robustes Wachstum erwartet, das von mehr als sechs Prozent in den USA über 3,6 Prozent in Deutschland bis zu gut drei Prozent in Japan reicht. Einen derart synchron verlaufenden Aufschwung, noch dazu in dieser Stärke, hat die Weltwirtschaft seit den Fünfzigerjahren nicht mehr erlebt. Entscheidender Treiber dieses Wachstums sind gigantische Konjunkturprogramme, die viele Länder aufgelegt haben.

    Ein Schub der Digitalisierung

    Hinzu kommt, dass die Pandemie einen enormen Schub der Digitalisierung bewirkt hat. Die Erfindungen rund um das Internet und ihr möglicher technischer und wirtschaftlicher Nutzen sind schon lange bekannt. Aber jetzt setzt sich der digitale Fortschritt breit durch. Das war mit Fernsehgerät, Spülmaschine und Automobil in den Fünfziger- und Sechzigerjahren nicht anders. Alles gab es schon seit den Zwanziger- und Dreißigerjahren. Aber erst in den »Roaring Sixties« fanden diese Geräte Eingang in jeden Haushalt. Andy Haldane, der Chefökonom der Bank of England, vertritt die Auffassung, der Digitalisierungsschub der Pandemie bringe nun endlich die Lösung des sogenannten »Produktivitätsparadoxons«: Jetzt werden sich die Früchte der Digitalisierung im Gesundheits- oder Bildungswesen, in den Fabriken und den Büros und deshalb auch in den volkswirtschaftlichen Statistiken niederschlagen. Das könnte freilich auch den Effekt haben, dass die Unternehmen ihre Fertigung ins Internet der Dinge hinein automatisieren – als Maßnahme zur Stärkung der Resilienz gegen kommende Schocks: Roboter in den Fabrikhallen sind – anders als Menschen – gegen gefährliche neue Viren nachhaltig immun.
    Das viele Geld, das die Menschen in der Pandemie unfreiwillig gespart haben, will jetzt ausgegeben werden. In Deutschland ist die Sparquote der privaten Haushalte von gut zehn Prozent des Einkommens im vergangenen Jahr auf noch nie dagewesene 16,2 Prozent angestiegen. Das sind 331 Milliarden Euro. Der auf Verzicht beruhende Anteil dieses Geldes kann jetzt verkonsumiert werden – auf Bali, den Bahamas oder in Bad Gastein. Ob das die Inflation dauerhaft nach oben treibt – auch das gehört ja zu den Roaring Twenties –, dar¬über machen Ökonomen sich Sorgen – selbst jene, die meinten, eine inflationsfreie Welt sei ein säkularer Trend und gefährlich sei eher eine Deflation (von der hat man schon lange nichts mehr gehört). Da ich aber eine komplett optimistische Kolumne schreiben will, sollen die Inflationsängste an dieser Stelle nicht vertieft werden. Zumal der britische Economist uns kürzlich eine beruhigende Grafik der Investmentbank Goldman Sachs gezeigt hat, aus der ich entnehme, dass zwar nach Kriegen die Teuerung dramatisch ansteigt, aber nicht nach Seuchen. Gut, dass wir »bloß« eine Pandemie hatten und keinen Krieg.

    Was die Fachleute von Goldman Sachs ebenfalls herausgefunden haben: Der Konsum nimmt nach Pandemien zwar zu. Aber die Leute werfen nicht besinnungslos ihr Geld zum Fenster raus. Die Krise hat sie vorsichtig werden lassen. Das könnte jetzt auch wieder so sein. Eine Krise folgt der nächsten (Finanz-, Euro-, Flüchtlings- und Corona-Krise). Gerade weil wir in den vergangenen 20 Jahren mehrfach die Erfahrung des Unerwarteten gemacht haben, bremsen wir unseren Optimismus ab. Der amerikanische Ökonom Barry Eichengreen meint deshalb, die Sparquote werde weltweit tendenziell höher bleiben.

    Der Große Gatsby

    Ich will der Aufrichtigkeit halber nicht verhehlen, dass es Zeitgenossen gibt, welche die Erwartung der Roaring Twenties übertrieben finden. Sie haben viele schwache, aber ein starkes Argument auf ihrer Seite: Gegen Ende des Ersten Weltkriegs lag der Anteil der unter Zwanzigjährigen an der Gesamtbevölkerung in Westeuropa bei knapp vierzig, jener der über Fünfundsechzigjährigen bei sechs bis sieben Prozent. Heute hat sich der Anteil der Jungen halbiert und jener der Älteren fast vervierfacht. Dass sich in einer solchen Gesellschaft die Exzesse und Orgien in Grenzen halten werden, wird man vermuten dürfen, aller darin enthaltenen Altersdiskriminierung zum Trotz. Dass es also nach 1920 einen Boom an »Start-ups« gab und eine neue Bereitschaft, unternehmerische Risiken einzugehen, taugt nicht unbedingt zur Blaupause für das aktuelle Jahrzehnt. Die sogenannte säkulare Stagnation könnte uns noch eine ganze Weile begleiten: In Erwartung eines langen Lebens sparen immer mehr Leute immer mehr. Aus Ersparnissen werden keine Investitionen: weil den Firmen nichts Gescheites einfällt.

    Was soll man sagen? Dass Prognosen unsicher sind, vor allem dann, wenn sie die Zukunft betreffen, wissen wir. Halten wir uns derweil an den »Großen Gatsby«, F. Scott Fitzgeralds Roman der Roaring Twenties: »Gatsby glaubte an die rauschende Zukunft, die Jahr um Jahr vor uns zurückweicht. Sie ist uns gestern entschlüpft, doch was tut’s – morgen schon eilen wir rascher, strecken weiter die Arme aus . . . Und eines schönen Tages . . .«

    Rainer Hank