Hanks Welt
Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).
Aktuelle Einträge
02. Januar 2025Das Evangelium nach Peter Thiel
02. Januar 2025Wer die Wahl hat
04. Dezember 2024Ein Hoch auf Pharma
04. Dezember 2024Mit Unsicherheit leben
15. November 2024Zwangsarbeit
05. November 2024Totaler Irrsinn
18. Oktober 2024Arme Männer
14. Oktober 2024Christlicher Patriotismus
08. Oktober 2024Im Paradies der Damen
28. September 2024Von der Freiheit träumen
20. September 2021
Lauter kleine KapitalistenEin Vorschlag, das Problem teurer Mieten zu lösen
Deutschland ist ein Land der Mieter. Die Wohneigentumsquote stagniert, obwohl Wohneigentum im vergangenen Jahrzehnt erheblich an Attraktivität gewonnen hat. Zwar sind die Preise von Immobilien kräftig gestiegen. Doch auf der anderen Seite hat die Zinsentwicklung die Preisentwicklung vielerorts überkompensiert, wie es in einer neuen Analyse des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) heißt.
Statt zu kaufen, jammern die Deutschen lieber. Statt selbst zu kleinen Kapitalisten zu werden, wollen sie die Groß-Kapitalisten enteignen.
Knapp die Hälfte der Deutschen nennen ein Häuschen oder eine Eigentumswohnung ihr eigen. Die andere Hälfte wohnt zur Miete. In Berlin ist es besonders krass: Dort sind über achtzig Prozent der Menschen Mieter. Nirgendwo in Europa gibt es so wenig Wohneigentümer wie in Deutschland. »Immobilienvermögen ist der Schlüssel zu einer gleichen Vermögensverteilung in Deutschland«, lese ich in einer neuen Studie des »Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung« (DIW). Kein Wunder, dass die Deutschen weniger vermögend sind als Spanier oder Italiener.
Das alles ist merkwürdig. In Befragungen sagen viele junge Deutschen, sie wünschen sich eine eigene Wohnung. Warum sie den Wunsch nicht umsetzen, ist unklar: Komplizierte Genehmigungsverfahren werden genannt, hohe Kosten für Makler, Notare und eine unfaire Grunderwerbsteuer. Ein Haus zu finanzieren ist ein Wagnis – wenn man angesichts der zögerlichen Bautätigkeit denn überhaupt eines findet. Der Staat, der hierzulande für alles und jedes sich zuständig erklärt, fühlt sich für den erleichterten Zugang zu erschwinglichem Wohneigentum nicht wirklich verantwortlich. Lieber wird jetzt wieder viel über Sozialwohnungen geredet – ein Konzept aus der sozialdemokratischen Mottenkiste; da wohnen in der Regel die Falschen, viel zu lange und zu viel zu günstigen Preisen.
Ein Blick nach Singapur
Wenn Wohnen »die neue soziale Frage« ist, wie man derzeit – völlig übertrieben – hört, schlage ich vor, den Blick nach Asien zu richten. Vergangene Woche war ich in Singapur. Das Land öffnet sich, nachdem man sich achtzehn Monate lang fast hermetisch von der Außenwelt abgeschirmt hat, um das Corona-Virus abzuschrecken – was dann doch nicht ganz geklappt hat. Singapur hat die höchste Eigentümerquote auf der ganzen Welt. Sie liegt bei über achtzig Prozent. Das ist die umgekehrte Relation verglichen mit Berlin. In Singapur lässt sich ein gelungenes Sozial-Experiment studieren, wie aus Mietern oder Wohnungslosen Eigentümer werden – und das unter erschwerten Bedingungen. Der Stadtstaat beherbergt auf einer Fläche, die gerade einmal doppelt so groß ist wie Bremen, inzwischen 5,7 Millionen Menschen (in Bremen sind es rund 600 000). In den sechziger Jahren, als der neue Staat gegründet wurde, zählte man lediglich 1,6 Millionen Menschen. Das Land zieht seither wie ein Magnet Menschen aus der ganzen Welt an. Das führte zu einer extremen Wohnungsnot.
Die Regierung parierte die Krise mit drei genialen Maßnahmen. Erstens gelang es, dem Meer in enormem Umfang Land abzugewinnen: damit vergrößerte sich die Fläche des Staates von 580 Quadratkilometern im Jahr 1965 auf 728 Quadratkilometer 2020.
Zweitens erklärte der Staat sich dafür zuständig, in großem Stil serielle Wohnungen zu bauen. »Seriell« muss nicht bedeuten, dass diese Wohnungen so unwirtlich aussehen, wie unsere Trabantenstädte in Neuperlach & Co. In den Häusern aus den sechziger Jahren, die wir uns in Singapur angeschaut haben, gibt es viel »Co-Living-Space« für die Bewohner, eine Idee, die auf der gerade stattfindenden Architektur-Biennale in Venedig als Zukunftsvision gepriesen wird. Singapur achtet auch auf eine gesunde soziale Mischung der Eigentümer, um eine Ghettobildung zu vermeiden.
Drittens schließlich kümmert der Staat sich um die Finanzierung der Wohnungen. Eine Wohnungsgesellschaft – das Housing and Development Board (HDB) – entwickelt die Bauprojekte. Entstanden sind im Lauf der Jahre über eine Million Wohnungen, die der Staat auf 99 Jahre den Bürgern überlässt. Die Appartements werden zu subventionierten Preisen und nach bestimmten Prioritäten an Singapurer Bürger verkauft. Gibt es mehr Anspruchsberechtigte als Wohnungen werden die knappen Eigenheime verlost – ein ökonomisch faires Verfahren.
Auch von der Schweiz lässt sich lernen
Jeder einheimische Bürger sollte Eigentümer werden können, so lautete die Devise des charismatischen Staatsgründers Lee Kuan Lew. Die staatliche Rentenkasse, in die jedermann Monat für Monat vierzig Prozent des Einkommens für Alter und Krankheitsschutz einzahlen muss, gewährt einen Kredit, der bis zu 90 Prozent des Hauspreises finanziert. Im Verlauf des Arbeitslebens muss dieser Kredit vom Eigentümer zurückgezahlt werden. Frühestens nach fünf Jahren können die Wohnungen zu Marktpreisen weiterverkauft werden. Das passiert häufig und ist ein Weg, wie Angehörige der unteren Mittelschicht ziemlich reich werden können. Eine Zweizimmerwohnung etwa, die vom Staat in den sechziger Jahren für 5000 Singapur-Dollar angeboten wurde, ist derzeit für 220 000 Dollar auf dem Markt – eine unschlagbare Rendite. Mit dem Erlös lässt sich trotz überhitztem Immobilienmarkt eine hübsche Wohnung in einem schicken Mehrparteienhaus (Condominium) erwerben.
Wem Singapur zu ostasiatisch klingt, der soll sich in der Schweiz umsehen. Dort haben sogar im Land lebende Nichtschweizer das Recht, aus ihrer kapitalgedeckten Altersvorsorge AHV Geld zur Finanzierung eines selbst genutzten Eigenheims zu entnehmen. Das ist dann eine Art Vorbezug seiner Altersersparnisse.
Man wird das Modell Singapur oder Schweiz nicht jeweils eins zu eins auf Deutschland übertragen können. Wichtig ist mir der Grundgedanke: Wenn der Staat sich um das Wohnen seiner Bürger kümmern will, dann ist es besser, er verhilft ihnen zu Eigentum als zu Mietsozialwohnungen. Dreh- und Angelpunkt ist der Zugang zu Kapital. Weil es in Deutschland keine kapitalgedeckten Pensionsfonds gibt, sondern lediglich die gesetzliche Rente, die als Umlage funktioniert, müssen wir uns hier etwas anderes einfallen lassen. Das IW empfiehlt zinslose oder zinsgünstige Kredite, die über eine Immobilienkreditversicherung abgesichert werden und die etwa im Fall von Arbeitslosigkeit, Scheidung oder dem Tod eines Partners die Weiterzahlung der Raten sicherstellt. Das würde die Scheu vor der hohen Verschuldung reduzieren.
Aus einer eigenen Wohnung kann einen kein Immobilienhai vertreiben. Man hat Vermögen und für das Alter vorgesorgt. Klingt super. Bleibt die Frage, warum die Eigentumsbildung in den Programmen der Parteien unter »ferner liefen« vorkommen. Da kann ich nur spekulieren: Eine lang gepflegte politische Stimmung des Antikapitalismus fürchtet sich vor einem Volk von lauter kleinen Kapitalisten.
Rainer Hank
17. September 2021
Destruktion hat ZukunftKeine Angst vor der Transformation
So viel Transformation war nie. Wir hören viel von der »digitalen Transformation«, der »großen Transformation«, der »biologischen Transformation« – und natürlich der grundlegenden Transformation unseres Wirtschaftens angesichts der von der Klimakrise bedrohten Welt.
Was versteht man unter Transformation? Eine erste Definition lautet: Transformation bezeichnet das Umwandeln oder Umgestalten von etwas in einen anderen Zustand. Es geht um die Umstrukturierung eines bestehenden Systems in ein anderes. Kaum ein Begriff hat in letzter Zeit eine solche Karriere hingelegt wie die Transformation. Anschaulich zeigt dies die Wortverlaufskurve des digitalen Wörterbuches der deutschen Sprache: Nach dem Jahr 2010 erlebt die seit 1946 flach verlaufenden Linie ein exponentieller Schub, der sie steil, fast vertikal, ansteigen lässt. Sofern Sprache etwas mit der Wirklichkeit zu tun hat, muss man sagen: Irgendetwas passiert. Aber was?
Transformationen sind mit Ängsten verbunden. Veränderungen mögen theoretisch willkommen sei, wird es konkret, fürchten wir sie. Unser Wohlstand – oder der unserer Kinder – ist gefährdet. Unsere Arbeit könnte uns ausgehen. Kein Wunder, dass Industrie und Gewerkschaften an den Staat und die Politik die Forderung herantragen, die Transformation abzufedern und potenzielle Verlierer zu entschädigen.
Machen wir es konkret am Beispiel der Automobilindustrie – passend zur IAA in München. Die Branche befindet sich weltweit in einem der größten Transformationsprozesse seit den Erfindungen von Gottlieb Daimler, Robert Bosch und Henry Ford. Wesentliche Aufgabe der Transformation ist der Umstieg von konventionellen Antrieben der Verbrennungsmotoren auf elektrische Fahrzeuge und Wasserstoffantrieb – und das in atemberaubender Geschwindigkeit. In Deutschland stellen annähernd eine halbe Million Personen Produkte her, die direkt mit der Verbrennertechnik zusammenhängen (Dieselmotoren, Abgasreinigungssystem oder Auspufftöpfe zum Beispiel). Nimmt man die indirekt vom Auto abhängigen Beschäftigten hinzu, sind es 2,75 Millionen Menschen. Rund fünfzig Prozent der europäischen Wertschöpfung im Kraftfahrzeugbau findet in Deutschland statt. Was wird aus diesen Beschäftigten im Transformationsprozess?
Was Linkedin so alles verrät
Das Ifo-Institut in München hat dazu gerade eine aufregende Studie veröffentlicht – nicht nur wegen ihres Ergebnisses, sondern, wie ich finde, auch wegen der dort angewandten Methode. Die Ausgangsfrage war, welche Kompetenzen bei der Fertigung von Autos künftig gebraucht werden. Und ob die heute schon in der Branche Beschäftigten diese Kompetenzen sich aneignen werden oder ob dazu Personal von außen gesucht werden muss. Es braucht im Zeitalter der Elektromobilität nämlich nicht nur neue Berufe, sondern es ändern sich auch die Berufe selbst, das heißt die ausgeübten Tätigkeiten und geförderten Kompetenzen. So bleibt beispielsweise die Berufsbezeichnung Entwicklungsingenieur bestehen. Doch der muss sich jetzt mit Batteriesteuerungen auskennen.
Um herauszufinden, wie gut oder schlecht die deutsche Industrie für die Transformation gerüstet ist, haben sich die Ifo-Forscher der Daten des beruflichen Netzwerkes LinkedIn bedient. Das ist ziemlich pfiffig. Wer bei LinkedIn Mitglied ist, gibt in der Regel mehr oder weniger detailliert ein berufliches Profil von sich und von seinen professionellen Kompetenzen preis. Damit, so das Ifo-Institut, sei es möglich, die Veränderung der Kompetenzen in der deutschen und internationalen Automobilindustrie sehr zeitnah zu analysieren, besser als mit der nachhinkenden amtlichen Statistik der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten. Allerdings scheinen die Forscher davon auszugehen, dass die LinkedIn-Community ehrlich ist. Sie unterschlagen dabei die menschliche Neigung, die eigenen Kompetenzen in ein besonders gutes Licht zu stellen. Sei’s drum.
»Emerging Jobs« nennen die Forscher Jobs, die das größte Wachstum innerhalb einer Branche oder Region erwarten lassen. Hier liefern die Daten von LinkedIn erfreuliche Resultate: Sowohl in Deutschland wie auch global ist in letzter Zeit vor allem die Zahl solcher Jobs gewachsen, die mit der Digitalisierung in Verbindung stehen (Software und Entwicklung, Daten und deren Analyse). In Deutschland haben diese Jobs sogar überdurchschnittlich zugenommen. Hier gibt es auch besonders viele neue Tätigkeiten im Bereich von Verwaltung und Personal, klingt langweilig, ist aber für Transformationsprozesse unabdingbar. Allerdings wird schnell deutlich, dass die meisten dieser »Emerging Jobs« von Beschäftigten ausgeübt werden, die neu in der Branche sind. Im Vergleich zu den langjährig in der Autoindustrie Beschäftigten bringen die neu in die Branche gewechselten Menschen 71 Prozent häufiger digitale Kompetenzen mit.Sofern man den Zwischenstand der Ifo-Forscher generalisieren darf, ist die Botschaft einigermaßen beruhigend: Es gibt keinen Grund für Apokalyptik. Die Transformation hierzulande ist in vollem Gang. Und auf gutem Weg. Gewinner sind die neu in die Branche kommenden Beschäftigten. Verlierer sind die Altgedienten, denen die Umstellung schwerfällt. Trägheit war immer schon ein Hindernis der Innovation; dem Strukturwandel sind Neulinge besser gewachsen.
Ein Blick auf Karl Polanyi
Der Befund könnte die bisherigen Erfahrungen mit disruptiven Transformationsprozessen in der Wirtschaftsgeschichte bestätigen. Als »große Transformation« bezeichnet man seit den Arbeiten des Wirtschaftshistorikers und Sozialforschers Karl Polanyi (1886 bis 1946) die Verselbständigung und Entfesselung der Marktprozesse zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Polanyi bewertet diese Erfahrung der »Entbettung« von Wirtschaft und Gesellschaft negativ. Das frrühe 19. Jahrhundert markiert zugleich aber den Beginn der industriellen Revolution, die den ehemals armen Bevölkerungsschichten Wohlstand gebracht hat. Das unterschlägt Polanyi.
Hinzu kommt: Regelmäßig sind wirtschaftliche Transformationsprozesse verbunden mit der Angst vor hoher Arbeitslosigkeit. Doch noch nie sind diese Befürchtungen eingetreten. Prozesse der Automatisierung und Roboterisierung politisch verzögern zu wollen (etwa durch eine Maschinensteuer), rettet keine Arbeit, sondern zerstört sie, wie man beim Ökonomen Philippe Aghion nachlesen kann, dessen neues Buch über die »Kreative Zerstörung« ich nicht genug preisen kann. Technische Revolutionen entfalten ihre Wachstumseffekte stets mit einer Zeitverzögerung: So war es bei der Elektrizität, die von Thomas Edison und Werner von Siemens schon Mitte des 19. Jahrhunderts entdeckt wurde – und ihr enormes Potential erst nach der Jahrhundertwende 1900 ausspielte. Ähnlich könnte es jetzt auch mit der Computerisierung und Digitalisierung vor sich gehen. Niemand muss sich vor technologischen Revolutionen und den wirtschaftlichen Transformationen fürchten, lese ich bei Aghion. Eine beruhigende Botschaft.
Rainer Hank
06. September 2021
Grüner wird's nichtNachhaltigkeit, Großspurigkeit, Schlampigkeit
Auf einer Anhöhe südlich von Weimar liegt inmitten eines weitläufigen Parks das Schloss Belvedere, die barocke Sommerresidenz der Familie von Sachsen-Weimar und Eisenach. Das Prunkstück dieser wunderschönen Anlage ist eine Orangerie.
Orangerie – so nennt man historisch repräsentative Gärten für Zitruspflanzen, aber auch die Gewächshäuser, in denen diese Pflanzen die kalte Jahreszeit verbringen. Dass der Wechsel zwischen draußen und drinnen möglich wurde, verdanken wir dem Pflanzenkübel, einer in ihrer Nachhaltigkeit gewaltig unterschätzten menschlichen Erfindung, die auf André Le Nôtre (1613 bis 1700), den Stargärtner von Versailles zurückgeht.
Hunderte Bitterorangenbäume zählten in den besten Zeiten zum Bestand der Orangerie des Weimarer Belvedere. Sie waren Ausdruck einer Hoffnung auf die Wiederkehr des goldenen Zeitalters, sichtbar im Symbol der immergrünen – gleichzeitig Früchte und Blüten tragenden – Zitruspflanzen. Auch Granatäpfel, Feigen und Kaffeebäume seien hier kultiviert worden, so sagt man uns.
Das alles diente dazu, Bedeutung und Reichtum eines barocken Hofes sichtbar werden zu lassen. Und es war ein Ort der Wissenschaft. Bereits der Schlossherr Herzog Karl August von Sachsen-Weimar (1757 bis 1828) gab große Summen für exotische Pflanzen aus. Der Herzog und sein Starminister Johann Wolfgang von Goethe gingen hier ihren botanischen Leidenschaften nach, und so gelangten Exoten aus aller Welt in die Pflanzensammlung eines deutschen Kleinstaates. Besonders berühmt war Belvedere für die Sammlung von sogenannten Kap-Pflanzen und Neuholländern, also Pflanzen aus Südafrika und Australien. Ein besonders gelungenes Beispiel botanischer Globalisierung, wenn man so will.
Thüringen: Das Land, wo die Zitronen blühen
Als wir am vergangenen Wochenende nicht nur, aber auch aus Anlass von Goethes Geburtstag mit Freunden wieder einmal durch die Weimarer Orangerie flanierten, fiel uns auf, dass der Wintergarten selbstverständlich beheizt war. Von Anfang an wurden solche Räume mit mehreren Eisenöfen ausgestattet. Anders hätten die mediterranen und exotischen Pflanzen des Südens das raue Klima Thüringens gar nicht überlebt.
Kurzum: So eine Orangerie schien uns ein vorzügliches Beispiel dafür zu sein, wie sich Pflanzen auch in geographischen Räumen hegen und schützen lassen, die nichts mit ihrer klimatischen Herkunft gemein haben. Sollte ich künftig nach einem Vorbild für eine gelungene Anpassung an den Klimawandel gefragt werden, ich würde von den Orangerien des barocken Zeitalters schwärmen und den Ideenreichtum der damals herrschenden Aristokratie und ihrer wissenschaftlichen Berater preisen. Hier zeigt sich sehr konkret, dass menschliche Kreativität und technischer Erfindergeist zusammenbringen können, was von Natur aus gar nicht zusammengehört: Südfrüchte im Norden.
Die Moral von der Geschichte der Zitrusfrüchte: Wir müssen nicht warten, bis der Klimawandel unseren Planeten zerstört. Wir können uns auch – pro-aktiv wie man heute zu sagen pflegt – ihm entgegenstemmen. Anpassung schlägt Apokalypse.Die Chance eines Lobes technischer Klimaanpassung, so hoffte ich, würde sich auch die Klassik Stiftung Weimer, die die Orangerie bewirtschaftet, nicht entgehen lassen: »Klimawandel in historischen Gärten«, so ist sogar ein laufendes Ausstellungsprojekt benannt, das Teil des Themenjahres 2021 »Neue Natur« ist. Umso enttäuschender gerät dann allerdings die Ausführung: Beredtes Klagen darüber, dass auch die Bäume und Pflanzen der barocken Gärten unter der Erderwärmung zu leiden haben. »Hitze, Dürre, Krankheiten. Wenn ich zehn Jahre in die Zukunft denke, wird mir angst und bange«, klagt Jörg Edel, seines Zeichens Baumkontrolleur in den Weimarer Parks. So sehr ich den Mann verstehe: Meine Überraschung über diese Erkenntnis hält sich in Grenzen. Zu erwägen, künftig in den Parks Bäume und Sträucher zu pflanzen, die die wärmeren Temperaturen besser vertragen, wird als unbrauchbarer Einfall von Kulturbanausen komplett verworfen. Gewiss, die historische Gestalt der Parks entspricht dann nicht mehr im Detail den Ideen des 18. Jahrhunderts. Doch wer Anpassung verweigert, darf sich über den Verfall nicht beklagen.
Origineller als zu klagen und zu weinen wäre es zu bewundern, dass der »Nutzen der Historie für das Leben« in Weimar in der Anschauung der Anpassungsmöglichkeiten an veränderte Umweltbedingungen besteht. Das freilich wäre nicht im Sinn der aktivistischen Präsidentin der Stiftung Weimarer Klassik, Ulrike Lorenz. Sie will künftig »mehr Haltung« zeigen und in die »Gesellschaft von heute« wirken. Womit? Natürlich mit »Nachhaltigkeit«. Das nennt sie eine »Diskurswende«, die doch am Ende schlicht darauf hinausläuft zu machen, was alle machen: Relevanz, Partizipation (»Volksnähe« hätte man früher gesagt), Demokratisierung. Ein MeToo-Projekt (im Vor-Harvey-Weinsteinschen Sinn): Nachäffen ohne jegliche Originalität. Das einzigartige Potential Weimars wird verspielt. Der »Geist der Zeiten« ist bekanntlich allemal »der Damen und Herren eigener Geist«: Es darf vermutet werden, dass diese gedankenarme Zeitgeisterei im Sinne der tonangebenden rot-rot-grünen Thüringer Landesregierung ist. Es darf auch vermutet werden, dass man mit dieser Beflissenheit leichter an öffentliche Fördermittel kommt als mit Widerborstigkeit gegen das, was alle machen.
Der Geist der Zeit ist allemal der Zeitgeist
Ohne Nachhaltigkeit geht gar nichts. Was das konkret ist, ist egal. Weimar macht nichts anderes als die Fondsgesellschaft DWS, die alle ihre Investments zur Geldanlage dem ESG-Gedanken unterstellt: »Environment, Social, Government«. Man habe »einen einzigartigen Ansatz von Nachhaltigkeitsaspekten« gefunden, tönt der Fonds, der den Menschen einen »nachhaltigen Lebensstil« verordnen will. Doch was ist nachhaltig? Atomkraft gewiss – denn ein geringerer Ausstoß von CO2 bei der Produktion von Energie, noch dazu effizient, lässt sich kaum finden. Doch Atomkraft nachthaltig zu nennen, wäre politisch unkorrekt. Nachhaltigkeit ist eine ideologische Chiffre für erhofften Marketingerfolg (einerlei, ob Goethe oder Geldanlage), die mit Klimaschutz nur noch wenig zu tun hat. »Viel Bluff« attestierte die amerikanische Börsenaufsicht SEC kürzlich den DWS-Fonds-Managern. Vielleicht sollte die Behörde sich auch einmal die Nachhaltigkeitsprosa der Klassik Stiftung Weimar vorknöpfen?
Auf den Kommentarspalten des Blogs der Klassik Stiftung findet sich, allerliebst, ein kleines Klimagedicht, in dem es heißt: »Der Handel mit Emissionen/Wird unser Klima nicht schonen/Weg vom ewigen Wachstumswahn/braucht es einen weltweiten Plan/Für den Planeten, die Menschheit/ Gehen wir es an, es ist an der Zeit.« Schöner hätten auch die planwirtschaftlichen Poeten der DDR nicht dichten können. Das »Erbe«, wie man in der DDR gesagt hätte, bleibt auf der Strecke. Wer nur den Zeitgeist nachäfft, dem haben auch Goethes naturwissenschaftliche Schriften nichts mehr zu sagen.
Rainer Hank
30. August 2021
Anleitung zum EnteignenWie man mit Immobilienhaien und Spekulanten umgeht
Am 26. September wählen die Deutschen einen neuen Bundestag. Die Berliner, bei denen gleichzeitig ein neues Abgeordnetenhaus gewählt wird, haben sich an diesem Tag ein besonderes Experiment vorgenommen: Sie stimmen ab über die Initiative »Deutsche Wohnen enteignen«. Immobilieneignern, die mehr als 3000 Wohnungen in ihrem Bestand haben, soll ihr Eigentum konfisziert werden.
Mit der Vergesellschaftung wollen die Initiatoren der Aktion Wohnungen der Spekulation entziehen. »Keine fette Dividende mehr für Aktionär:innen, die aus unseren Mieten bezahlt werden muss.« Künftig soll Wohnraum gemeinnützig in einer Anstalt des öffentlichen Rechts (also eine Art »Wohn-ARD«) verwaltet werden.
Das alles sollte man nicht als Schrulle antikapitalistischer Splittergruppen abtun. Nach einer Umfrage des Berliner »Tagesspiegel« bekommt die Enteignungsinitiative eine relative Mehrheit: 47 Prozent der im April Befragten äußerte sich zustimmend, 44 Prozent waren dagegen, rund zehn Prozent zeigten sich unentschieden. Selbst unter potenziellen CDU-Wählern votierte ein Drittel dafür, den Eigentümern ihr Eigentum wegzunehmen. Für den Schutz des Privateigentums legt sich laut einer neuen Analyse des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstitut HWWI keine Partei ins Zeug.
Für Enteignungen gibt es sogar eine verfassungsmäßige Grundlage. Im Grundgesetz (GG) steht nicht nur der berühmte Artikel 14 »Eigentum verpflichtet«, sondern auch Artikel 15: »Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum überführt werden.« Das Land Berlin, so eine Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages, müsste die »Sozialisierungreife« der Wohnungen feststellen und die Entschädigungsfrage regeln. Da liegen die Vorstellungen zwischen 40 Milliarden Euro (so der Berliner Senat mit Bezug auf den Verkehrswert) und einem symbolischen Euro (so die Radikalenteigner) derzeit noch weit auseinander. Am Ende würde man sich nach aufwändigen gerichtlichen Streitereien schon irgendwo in der Mitte einigen.
Die »Aktion Rose« auf Rügen 1953
Breite Zustimmung, verfassungsrechtliche Grundlage – fehlt nur noch das historische Vorbild. Vergesellschaftungen dieses Ausmaßes habe es bislang noch nicht gegeben, heißt es. Die Auskunft ist nicht korrekt. Es stimmt, Artikel 15 GG wurde in der Bundesrepublik noch nicht angewandt. Die DDR hingegen hat in ihrer Geschichte beherzt und im großen Stil vergesellschaftet. Berühmt geworden ist die »Aktion Rose« im Januar 1953. Damals wurden private Gaststättenbetreiber- und Hoteliers, aber auch Fischräuchereien, Taxiunternehmer und Lebensmittelhändler enteignet. Die Aktion war von der SED Staats- und Parteiführung initiiert, konzentrierte sich auf den Ostseebereich, und dort insbesondere auf die Insel Rügen. Ziel war die flächendeckende Enteignung der kapitalistischen Betriebe auf dem Weg zu einer sozialistischen Gesellschaft.
Warum gerade die Ostsee und Rügen? Dazu hat der auf Rügen lebende Historiker Reinhard Piechocki geforscht. Walter Ulbricht soll sich bei einem Besuch auf der Insel darüber geärgert haben, dass es noch so viele Privathotels und Pensionen gab. Darüber hinaus beschwerte sich der Feriendienst des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes FDGB immer wieder bei den SED-Funktionären, wenn ihm Hotelbesitzer einen Vertrag verweigerten, weil es lukrativer war, Privatgäste einzuquartieren.
Seit Ende 1952 bereitete deshalb die Führung in Berlin eine Aktion vor, durch die mit einem Schlag private Hotels und Pensionen enteignet und dem FDGB-Feriendienst übertragen werden sollten. Das »bürgerliche Privileg einer Urlaubsreise« sollte ersetzt werden durch die Idee »Urlaub für alle«. Die »Aktion Rose« begann am 10. Februar 1953. Es nahmen 400 Volkpolizisten teil. Laut Einsatzprotokoll sangen sie auf dem Weg ins Einsatzgebiet revolutionäre und Heimatlieder: »Jeder Einzelne war davon überzeugt, dass er bei diesem Einsatz einen persönlichen Anteil bei der Schaffung der Grundlagen des Sozialismus in der DDR leistet«, so das Protokoll. Innerhalb eines Monats wurden 440 Hotels, Pensionen und Restaurants in das Volkseigentum der DDR überführt, deren Besitzer enteignet und 447 von ihnen festgenommen. Was 1953 nicht enteignet wurde, wurde spätestens 1972 zwangskollektiviert.
Life, liberty and property
Die »Aktion Rose« ist im Westen kaum bekannt. An der Ostseeküste hat sie sich bis heute tief in die kollektive Erinnerung eingebrannt. In Kasnevitz, einem Dorf bei Putbus auf Rügen, war ich am vergangenen Wochenende Zeuge eines Gesprächs im neuen Dorfgemeinschaftshaus, das das Schicksal des angesehenen und erfolgreichen Händlers Werner Coordt zum Thema hatte, den das Regime 1953 drei Monate in Haft setzte und sein Geschäft enteignete. Seine Witwe, ehemalige Mitarbeiter und Dorfbewohner erinnerten sich jetzt in vielen Detail, wie solche Aktionen dazu angetan waren, die Menschen einzuschüchtern, privates Unternehmertum auszumerzen und Risikobereitschaft zu bestrafen. Zentral geplante Mangelwirtschaft ersetzte die Markt-Findigkeit von Händlern und Hoteliers, die die Bedürfnisse ihrer Kunden und Gäste genau kannten.
Die DDR war ein Unrechtsstaat, die Bundesrepublik ist ein Rechtsstaat. Die Berliner Enteignungsinitiative ist ein demokratischer Vorgang. Wenn die Deutschen mehrheitlich mit dem Sozialismus flirten wollen, sollen sie ihn bekommen. 1953 war »Urlaub für alle« das Motto der Enteignung. Heute heißt es »Wohnraum für alle«. Ist es weniger schlimm börsennotierte Konzerne zu enteignen als kleine Pensionsbesitzer? Ich finde nicht: Enteignung ist Enteignung. Auch der Großkonzern hat Kleinaktionäre.
Die marktwirtschaftliche Erfahrung, dass der Eigennutz des Eigentümers die Voraussetzung für Nutzen des Kunden ist, schwindet, was auch damit zu tun hat, dass sich der Wert vieler Immobilien ohne Engagement und Investitionen der Eigner in den vergangenen Jahren sehr vergrößert hat. Das mag ein Grund dafür sein, dass die Leute finden, Gemeineigentum sei besser als Privateigentum.
Dass ohne den Schutz des Privateigentums die Marktwirtschaft nichts wert ist, gerät in Vergessenheit. Für den englischen Aufklärungsphilosophen John Locke (1632 bis 1704) sind »life, liberty and property« (Leben, Freiheit, Eigentum) unveräußerliche Rechte, die jedermann zustehen und die der Staat zu schützen und nicht zu zerstören hat. Im Zuge des derzeit modischen Antikolonialismus ist nun auch John Locke und das Privateigentum unter schweren Beschuss geraten als Ideologie des imperialen Rassismus zur Versklavung der amerikanischen Ureinwohner und deren Utopie des Gemeineigentums.
Besser wäre es, das Wohnproblem anstatt mit Sozialismus konsequent kapitalistisch zu bekämpfen: Mehr bauen, höher bauen, günstiger bauen. Doch das könnte den Sozialisten ihre Aussicht versperren
Rainer Hank
23. August 2021
Der Irrsinn der Zehn-Punkte-PläneÜber Sofortprogramme, Maßnahmenkataloge – und was wirklich hilft
Jetzt, fünf Wochen vor der Bundestagswahl, der »heißen« Phase des Wahlkampfes, wie man sagt, haben sie wieder Hochkonjunktur: Die Zehn-Punkte-Sofortprogramme. Die Grünen sind Marktführer. Deshalb gibt es von ihnen in diesem Jahr gleich zwei davon: Ein Klimaschutzsofortprogramm in zehn Schritten. Und als Zugabe noch »10 Punkte für Grünes Regieren«.
Werfen wir einen kurzen Blick in die Texte der Grünen: 1. Erneuerbare Energien schneller ausbauen. 2. Den Kohleausstieg auf 2030 vorziehen. 5. Mobilitätswende beschleunigen. 10. Klimaaußenpolitik vorantreiben. Das Prinzip wird deutlich. Nichts kommt wirklich überraschend, selbst für Wähler, die nur grob eine Ahnung haben, worum es den Grünen geht. Jedes Mal wird ein verbaler Beschleuniger eingebaut. Das soll heißen: Wir drücken aufs Tempo. Nicht ungeschickt gemacht, finde ich, erst recht nach dem jüngsten Klima-Dringlichkeits-Tremolo des Weltklimarates. Im Vergleich zum Klimaprogramm fallen die »10 Punkte für Grünes Regieren« eher ab. Da heißt es zum Beispiel unter Punkt 6 »Soziale Sicherheit schaffen«. Wer wäre dagegen! Aber wie? Oder unter Punkt 10: »Fluchtursachen bekämpfen.« Gut, das haben amerikanische und deutsche Militärs gerade zwanzig Jahre lang in Afghanistan versucht. Am Ende müssen wir jetzt mit einer neuen Flüchtlingswelle rechnen.
Die Listen der anderen sind nicht besser. Etwa die »Zehn Punkte« vom #teamLaschetSpahn, die unter der Überschrift »Für ein innovatives und lebenswertes Deutschland« daherkommen. Besonders haben es mir die beiden letzten Punkte angetan: 9. Zusammenhalt STIFTEN. 10. Zukunftspartei SEIN. Donnerwetter. Den Sozialstaat haben ohnehin alle Parteien auf dem Zettel. Die Linke macht ihn »sicher«, die Grünen wollen ihn erst schaffen, haben wohl nicht mitgekriegt, dass es ihn schon gibt. Und die CDU will ihn sogar »modernisieren«. Die SPD übrigens hat keinen Zehnpunkteplan, sondern lediglich »Zwanzig Punkte gegen Steuerhinterziehung«. Und der FDP ist nach drei Punkten die Puste ausgegangen. Beides könnte sich am 26. September rächen. Ohne Zehnpunktepapier geht gar nichts.
Repertoire der politischen Entscheidungssimulation
Es hätte mir von Anfang an klar sein müssen, dass es vergebliche Liebesmühe ist, aus Zehnpunkteplänen inhaltliche Hilfestellungen für eine Wahlentscheidung bekommen zu wollen. Das ist nicht der Zweck dieser Literaturgattung, die redundant und unbestimmt bleiben müssen, einerlei aus welcher politisch-ideologischen Ecke sie stammen.
Doch warum versorgen uns die Parteien überhaupt mit derartigen Zehnerlisten, nicht nur zur Wahl? Mein Lieblingszitat stammt aus der Badischen Zeitung vom 2. Juni 2012: »Der neue Bundesumweltminister Peter Altmaier hat einen Plan. Er kennt den Inhalt noch nicht, aber es werden zehn Punkte sein.« Eine Erklärung für derartig absurde Sätzen findet sich in einem Buch des Bremer Politikwissenschaftlers Philip Manow, das den schönen Titel trägt »Die zentralen Nebensächlichkeiten der Demokratie.« Der Zehnpunkteplan gehöre zwingend zum »Repertoire der politischen Entscheidungssimulation«, schreibt Manow: Politiker wissen im Grunde, wie ohnmächtig sie sind (siehe Klima, siehe Afghanistan). Aber sie wissen auch, dass sie, frei nach dem Motto einer legendären Ford-Werbung, den Eindruck erwecken müssen: »Die tun was!« Und natürlich auch: »Die schaffen das.« Zehnerlisten sind Instrumente zur »Rückerlangung des Anscheins von Souveränität, Instrumente aus dem reichen Kasten politischer Inkompetenzkompensation« (Philip Manow).Bis heute unübertroffenes Vorbild aller Zehnpunktepläne ist natürlich der Dekalog, die Zehn Gebote, mit denen Mose vom Berg Sinai zurückgekommen ist. Der Dekalog zeichnet den Zehnpunkter vor allen anderen Bulletpoint-Bingo-Rankings aus. Zehn sind besser als fünf oder gar vierzehn. Berühmt wurde Georges Clemenceaus Kommentar auf Woodrow Wilsons 14–Punkte-Rede zu einer Friedensordnung für Europa vom Januar 1918: »Le bon dieu n’en avait que dix!«: Der liebe Gott ist doch auch mit nur zehn ausgekommen. Doch Mose musste sogleich erleben, dass das Volk Israel sich einen Teufel scherte um seine Zehn-Punkte-Programm und lieber um das Goldene Kalb tanzte.
Ich hätte übrigens eine Alternative zu den Zehnpunkteplänen. Der amerikanische Politiker Warren G. Harding (1865 bis 1923), ein Republikaner, wurde im Jahr 1921 zum US-Präsidenten gewählt. Sein Slogan hieß: »Return to Normalcy«. Das war direkt nach der Pandemie der spanischen Grippe ein befreiendes Verspechen. Warum soll so etwas heute nicht auch in Deutschland funktionieren? Wir kehren zurück zur alten Normalität. Das meint nicht nur die Freiheit des Alltagslebens. Es meint auch das Ende der grassierenden Staatswirtschaft.Wider die ordnungspolitische Verwahrlosung
Denn die Gefahr besteht, dass der ordnungspolitische Ausnahmezustand der langen Pandemie-Monate zur neuen Normalität wird, weil dies den Politikern Raum für immerwährenden Aktivismus eröffnet. Zum Beleg für meinen Verdacht taugen die Beschlüsse der letzten Ministerpräsidentenkonferenz von Anfang August. Unter den vielen Auflagen der Politik an die Betriebe findet sich etwa die Aufforderung der »Arbeitsschutzverordnung«, die Betriebe müssten Homeoffice anbieten. Das findet weiterhin breit statt. Dies wiederum führt dazu, dass viele Restaurants in den Städten kurzarbeiten lassen und einen zweiten »Ruhetag« einlegen, weil der Andrang zum Lunch noch nicht so groß ist wie vor der Krise. Absurd ist es, dass die Politik mit Geld der Steuer- und Beitragszahler (Kurzarbeit) einen Zustand (Homeoffice) kompensiert, den sie selbst mehr oder weniger vorgeschrieben hat. Mit Marktwirtschaft hat das nichts zu tun. Die Betriebe und ihre Beschäftigten sollen selbst eine Balance zwischen Office und Home-Office aushandeln. Womöglich überleben danach nicht mehr alle Restaurants. Sie dürften deshalb erst recht mit Kurzarbeitergeld gepäppelt werden.
Ordnungspolitik heißt: Lasst den Staat machen, was der Staat kann, und den Markt, was der Markt kann. Fast zwei Jahre erleben wir jetzt eine »ordnungspolitische Verwahrlosung« – so der Würzburger Ökonom Norbert Berthold: Staatswirtschaft verdrängt mehr und mehr die Marktwirtschaft. Der Staat verteilt Masken und Impfstoffe, nicht besonders effizient, wie wir gesehen haben. Der Staat verschuldet sich über die Halskrause und hofft auf unendlich viele Jahre mit Niedrigzinsen. Politiker finden großen Gefallen an dieser Art Staatswirtschaft. Geldausgeben macht ihnen Spaß. Viel Staatsgeld kommt jetzt auch zum Wiederaufbau der von der Flut zerstörten Städte und Dörfer an der Ahr zum Einsatz. In Wahlkampfzeiten geht das wahrscheinlich nicht anders – es wird freilich die Neigung, künftig klimabedingte Unwetterrisiken privat zu versichern, nicht gerade fördern. Der staatliche Allmachts-Gestus wird schließlich auch nicht dazu beitragen, dem Klimawandel mit Marktlösungen (Emissionshandel, CO2–Steuern) zu trotzen. Interventionismus und viel Geld ausgeben gehören – wie die Zehnpunktepläne – zum Instrumentenkasten politischer Kompetenzsimulation. Der Aufruf »Zurück zur Normalität« hat es da schwer, ich weiß.
Rainer Hank