Hanks Welt

Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).

Aktuelle Einträge

  • 14. Februar 2022
    Kuss zum Valentinstag

    Gustav Klimt: Der Kuss (1908/1909) Foto: Österreichische Galerie Belvedere

    Dieser Artikel in der FAZ

    Klimts Meisterwerk für nur 1850 Euro

    Suchen Sie noch ein Geschenk zum Valentinstag? In diesem Jahr hat sich das Wiener Museum Belvedere etwas Besonderes einfallen lassen: Es bietet den »Kuss« von Gustav Klimt, entstanden im Jahr 1908, zum Kauf an. In den 70er Jahren hing dieser Kuss als Poster in vielen Studentinnenzimmern.

    Im digitalen Zeitalter muss es natürlich digital sein. NFT – Non-Fungible Token – heißt das Zauberwort: Dabei wird das Gemälde in 10 000 digitale Ausschnitte zerlegt, die quasi Unikate sein sollen (nicht austauschbar, eindeutig identifizierbar, deshalb »non-fungible«). Eines dieser Puzzlestückchen kostet 1850 Euro, ein willkürlicher Betrag, wie das Museum zugibt. Geht die Rechnung auf, kommen am Ende Einnahmen von 18,5 Millionen Euro zusammen. Okay, für mich ist das Ganze ein bisschen komplizierter, als einen Rosenstrauß über Fleurop zu bestellen. Zunächst muss man sich auf der Plattform »thekiss.art« anmelden. Sodann ist es erforderlich, dass sich Interessenten ein Wallet für die Kryptowährung Ether erstellen. Das ist nicht ganz trivial für Nicht-Digital-Natives. Schließlich ist es mir mit der App MetaMask gelungen (es gibt ein gutes Youtube-Tutorial).
    Sollten sich mehr als 10 000 interessierte Käufer melden, werden die Kuss-Stücke verlost. Da kann man Pech haben. Vermutlich macht es einen kleinen Unterschied, ob die Partnerin am Ende ein Stück des roten Kussmundes erhält – oder lediglich einen Ausschnitt des langweiligeren Blumendekos drumherum. Das könnten sich später preislich spiegeln, will man seinen Klimt wieder los werden, sollte die Liebe erloschen und die Erinnerung daran nur noch schmerzlich sein.

    Am Valentinstag, also am Montag, findet das »Minting« statt (die »Prägung«). Das heißt, es klärt sich, ob ich einen Zuschlag bekomme und welches Kunststück für mich abfällt. Auch eine Liebeserklärung kann ich online hinzufügen. Auf den Zertifikaten, die jeder Käufer erhält, ist ersichtlich, welcher Ausschnitt des Gemäldes erworben wurde. Über eine handelbare NTF-Plattform sei der Weiterverkauf möglich, versprechen die Initiatoren. Gesichert wird mein Klimt auf der Blockchain, eine Datenbank, die als nicht manipulierbar, kostengünstig, schnell und transparent gilt – also eine Art digitaler Grundbucheintrag.

    Ich wollte die etwas firlefanzig klingende Aktion besser verstehen und wandte mich an die Kanzlei CMS in Österreich, die das Belvedere berät. Von einer Vorstellung musste ich mich als erstes verabschieden: Sollte ich den Zuschlag erhalten, werde ich leider nicht Miteigentümer des Original-Klimts, sondern lediglich einer hochauflösenden digitalen Fotografie – also einer Kopie des Gemäldes. Kein Gold, nur Pixel. Hätte ich mir auch denken können. Für 18,5 Millionen gibt es keinen Klimt, dessen Porträt der Adele Bloch-Bauer zuletzt für über hundert Millionen verkauft wurde. Es ist also wie bei den Drucken in den Studentenzimmer, bloß teurer und bloß ein Teilchen. Zweifel gibt es auch, ob die Sache vor digitalen Kunstfälschern wirklich so sicher ist, wie die NFT-Enthusiasten versprechen: Mit etwas Geschick könne jedermann ein NFT der Mona Lisa erstellen, warnt die Rechtswissenschaftlerin Viktoria Kraetzig (FAZ vom 9. Februar).

    Digitales Merchandising

    Man könnte die Aktion des Belvedere als eine Art digitales Merchandising beschreiben. Die Älteren kaufen Kaffeetassen mit dem Klimt-Kuss, die Jüngeren kaufen NFT. Für die Museen, die angesichts der Rekordpreise am Kunstmarkt vielfach nicht mehr mitbieten können, eröffnen NFTs neue Finanzierungsmöglichkeiten. Die digitale Kunst-Welt wächst exponentiell – auf inzwischen 17 Milliarden Dollar weltweit, wie Goldman Sachs im vergangenen Oktober zu wissen glaubte. Bei Christies erzielte im vergangenen Jahr eine Online-Auktion digitaler Collagen knapp 70 Millionen Dollar.

    Inzwischen bin ich unsicher, ob ich mich um den Kuss bewerben soll. Das heißt freilich nicht, das der Gag des Belvedere die gesamte Tokenisierung desavouiert. Die Grundidee dahinter ist, wie man Eigentumsrechte an einer Sache auf mehrere aufteilt, ohne die Sache zu teilen: Illiquides soll liquide werden. Der Wirtschaftshistoriker Alfred Chandler hat in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts gezeigt, dass dies exakt die Idee der Aktiengesellschaft war. Die Eigentümer einer Firma können mehrfach am Tag je nach Angebot und Nachfrage zu Markt- und Börsenpreisen ihre Anteile tauschen, ohne dass die Fabrik dafür zerschlagen werden müsste. Womöglich sogar ohne dass die Beschäftigten oder selbst das Top-Management davon etwas mitbekommen: die sollen ja arbeiten.

    Was für Fabriken geht, sollte nun auch für Kunst, Manuskripte (Autografen), Immobilien oder Wälder möglich sein. Die Digitalisierung macht eine Demokratisierung von Vermögensgegenständen möglich. Der immer noch sehr archaische, elitär-intransparente Kunstmarkt wird auf diese Weise zu einer »normalen« Assetklasse. Mit kleinen Beträgen – na ja 1850 Euro ist nicht ganz klein – kann ich zum Kunstspekulanten werden (oder mir ein Stück Wald – ökologisch äußerst nachhaltig – leisten).

    Theodor Weimer, der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Börse, hat schon seit längerem einen Riecher für das Potential der Tokenisierung. Weimer bringt mich mit Carlo Kölzer zusammen, einem erfolgreichen Start-Up-Unternehmer. An dessen Firma 360x ist die Börse (neben der Commerzbank) mit 50 Prozent beteiligt. Man muss sich die Firma vorstellen wie einen »Mischkonzern« aus einer großen Kunstgalerie (mit kunsthistorischer Expertise, Qualitätssicherung, Provenienz-Auskunft, Schutz vor Fälschern) und angeschlossenem digitalem Handelsplatz. Vertrauensbildende Maßnahmen unter dem Dach der seriösen Börse zur Durchsetzung einer Finanz-Innovation. Wenn es klappt, werden reiche Kunstsammler ihre Werke (reale oder digitale) hier einstellen und Teile davon tokenisieren lassen.
    Am Ende sind das vielleicht doch Anlage-Alternativen zu meinen Aktien-ETFs, die derzeit eher wenig Freude machen.

    Rainer Hank

  • 08. Februar 2022
    Lust und Kapitalismus

    Peter Paul Rubens: Lot und seine Töchter (1608) Foto: wikipedia

    Dieser Artikel in der FAZ

    Peter Paul Rubens malt bürgerliche Tugenden

    Das Wichtigste am Kapitalismus ist nicht das Kapital. Das Wichtigste sind die Ideen. Ohne die Erfindung des Geldes als allgemeines Zahlungs- und Wertaufbewahrungsmittel würden wir heute immer noch Muscheln und Knöpfe tauschen. Ohne die Erfindung des Kredits und des Zinses als Lohn der Geduld würde den Investoren das Kapital für ihre Unternehmungen fehlen. Und ohne die Erfindung der Öl- und Getreidemühle müssten wird das Mehl immer noch aus Weizen und Roggen stampfen und die Oliven mit Steinen quetschen. Von der Erfindung des Chips und des Internets zu schweigen.

    Auch Haltungen sind Ideen: Die braucht es, damit Kaufleute einander nicht übers Ohr hauen (Ehrlichkeit) und Startup-Unternehmer nicht bei der ersten Pleite die Flinte ins Korn werfen (Resilienz). Die amerikanische Ökonomin Deirdre McCloskey wird nicht müde zu erzählen, dass es ohne »bürgerliche Tugenden« nie zur industriellen Revolution gekommen wäre, welche die Armen reich gemacht hat. Diese Tugenden wurden in den italienischen Städten der Renaissance (15. Jahrhundert) und in den Handelsstädten der Niederlande (16. und 17. Jahrhundert) »erfunden« – anschließend in philosophische Form gegossen von den schottischen Aufklärern des 18. Jahrhunderts (Adam Smith und David Hume).

    Wie funktioniert der Transfer von der Tugendlehre zum Wirtschaftserfolg des Kaufmanns oder Börsenhändlers? Die bildende Kunst spielt eine entscheidende Rolle. Das lässt sich noch bis zum 20. Februar in einer formidablen Ausstellung mit Bildern des Malers Peter Paul Rubens (1577 bis 1640) in der Stuttgarter Staatsgalerie studieren. Rubens, vielen heutzutage lediglich von Gemälden üppiger Frauenkörper bekannt, ist, wenn man so will, der Maler der marktwirtschaftlichen Moral. Dass er dabei den Markt auch perfekt zum eigenen wirtschaftlichen Erfolg zu bedienen wusste, lässt sich in Stuttgart ebenfalls studieren: »Becoming famous« – werde berühmt! -, so der Titel der Ausstellung, war schon damals der kategorische Imperativ des künstlerischen Kapitalismus.

    Lot und seine Töchter

    Rubens wird als Sohn einer wohlhabenden protestantischen Bürgersfamilie geboren. Antwerpen war im 16. Jahrhundert die reichste Handelsstadt Europas und Standort der ersten Rohstoffbörse der Welt. Rubens wird – nach Lehr und Wanderjahren in Rom und Genua – zum Porträtisten der Reichen und Mächtigen seiner Heimatstadt. Bei seinem Tod ist er ein berühmter Mann. Gemälde aus seiner Werkstatt hängen in vielen Salons Europas. 800 Seelenmessen werden für ihn gelesen, damit es ihm im Himmel wohlergehen möge.

    An »Lot und seine Töchter« lässt sich studieren, wie die Tugendlehre des Kapitalismus konkret funktioniert. (Ich halte mich an die Interpretation von Gero Seelig im Katalog der Stuttgarter Ausstellung). Das Ölgemälde entstand 1608, kurz nach der Rückkehr des Malers aus Italien nach Antwerpen. Das Sujet behandelt eine Geschichte der Bibel, erzählt im Kapitel 19 des Buches Exodus. Gott, der Herr, ließ mit Schwefel und Feuer Sodom und Gomorrha zerstören, weil die Bewohner der beiden Städte ein sündhaft ausschweifendes Leben führten. Nur Lot, ein Migrant aus Mesopotamien und Verwandter Abrahams, nebst seinen beiden Töchtern wurde von Gott gerettet. Lots Frau zählte zunächst auch zur Gruppe der Erretteten, erstarrte allerdings zur Salzsäule, weil sie verbotenerweise gewagt hatte, sich noch einmal zur brennenden Stadt umzublicken.
    Lot und seine Töchter ließen sich in einer Höhle im Gebirge nieder. Da weit und breit kein anderer Mann zu finden war, kamen die Töchter auf die Idee, ihren alten Vater zu verführen, um den Fortbestand der Familie zu sichern: Sie wurden schwanger; beide brachten einen Sohn zur Welt.

    Warum zeigen Bürger Antwerpens an prominenter Stelle ihres Hauses eine Darstellung von Inzest und Trunkenheit? Fraglos als Abschreckung. Die biblische Episode ist ein Exempel dafür, wohin Weinrausch und sexuelle Begierde führen. »Triebregulierung« könnte man die Absicht der Rubensschen Tugendlehre nennen: Zähmt euch! Wer dem Alkohol verfällt, ist nicht mehr Herr seiner Sinne und wird keine guten Geschäfte mehr machen. Das Bild handelt von der (vermeintlichen) Macht der Frauen über die Männer. Die »überlegene List« der Frau und die Wirkung übermäßigen Alkoholgenusses galten als zwei der größten Gefahren, die dem Manne widerfahren können.

    Verführter oder Verführer?

    Doch so schlicht opfer-moralistisch, wie es auf den ersten Blick aussieht, ist Rubens nicht. Auffällig auf dem Bild ist die Abweichung von der biblischen Erzählung, in welcher der Vater als willenlos trunken geschildert wird. Bei Rubens wird ihm eine aktive Rolle zugeschrieben, während die beiden jungen Frauen ordentlich bekleidet sind, nur eine Schulter entblößt, – anders als in vielen Darstellungen des Themas und anders, als man es gerade von Rubens erwarten könnte. Siehe da: Der Mann macht es sich zu einfach, wenn er sich lediglich als von der Frau verführtes Opfer darstellt und den Rausch als Entschuldigung für sein Vergehen nimmt. Selbst der kapitalistische Sittenwächter Jean Calvin habe in seinem Bibelkommentar versucht, Lot zu entlasten, schreibt Gero Seelig. Rubens lässt ihm das nicht durchgehen.

    Trunksucht und Wollust sind Laster. Sie gefährden das Seelenheil und das Geschäft. Dies bildlich sich und seinen Gästen täglich vor Augen zu führen, mag als Warnung dienen, womöglich aber auch als Entlastung: Der Betrachtet darf mit Augen durchaus genießen, was im realen Leben verboten ist. Der Künstler bietet ästhetische Kompensation für den zivilisatorischen Triebverzicht. Diese Ambivalenz ist es, mit welcher die Kunst sich der simplen kapitalistischen Pädagogik widersetzt.

    Noch eines: Lot war in Sodom als Fremder verhasst, wurde von den Einheimischen mit dem Tod bedroht: »Weg mit Dir! – was will ein Fremdling her dien Richter spielen.« Aus Sodom wird Lot gerettet und Fremdenfeindlichkeit bestraft. Ausländerhass konnte der globale Kapitalismus schon im frühen 17. Jahrhundert nicht gebrauchen.

    Rainer Hank

  • 01. Februar 2022
    Kirche in Insolvenz

    Kardinal Reinhard Marx

    Dieser Artikel in der FAZ

    Auf den Sanierer kommt viel Arbeit zu

    Annette Schavan, ehemalige Botschafterin beim Vatikan (und zuvor deutsche Bildungsministerin), hat sich über die »Insolvenzrhetorik« mokiert, die derzeit in der katholischen Kirche in Mode sei. Nach den Missbrauchsskandalen reden die verantwortlichen Vertuscher (Bischöfe und Kardinäle) ihr eigenes Unternehmen ziemlich schlecht. Die Kirche sei an einem »toten Punkt«, sagt der Erzbischof von München, Kardinal Reinhard Marx. Die Kirche sei »heillos überfordert«, ließ sich der Mainzer Bischof Peter Kohlgraf zitieren – nachdem Ex-Papst Benedikt XVI. merkwürdige Erinnerungslücken an seine eigene Verwicklung in den Skandal zu erkennen gab.

    Der Begriff »Insolvenzrhetorik« ist formidabel. Man muss sich das so vorstellen, als würde der Aufsichtsratschef der Deutschen Bank mit Blick auf sein Kreditinstitut und dessen Aktienkurs seinen Kunden und Anteilseigner mitteilen, die Bank sei am Ende, ohne aus diesem Desaster mehr als rhetorische Konsequenzen zu ziehen. Als ob das Eingeständnis des Versagens schon genügen würde, um weiterzumachen wie bisher, unterbrochen lediglich von gelegentlichen Meldungen, Performance und Reputation des Unternehmens seien immer noch lausig.

    Der Verdacht liegt auf der Hand: Insolvenz-Rhetorik ist das Gegenteil von Insolvenz: eine Art depressiver Beschwörung der Lage durch das Top-Management (Bischöfe, Kardinäle) mit dem Ziel der Vermeidung der Insolvenz. Die Insolvenzrhetorik dient der Insolvenzverschleppung. Dass den Worten Taten folgen müssten, halten die Kirchenmänner für unnötig, gilt es doch zuallererst die eigene Haut zu retten.

    Nehmen wir die Insolvenz-Metapher zum Nennwert: Dass die Kirche ein Sanierungsfall ist, bestreitet niemand. Der Missbrauch ist nichts anderes als das Dementi ihres hohen moralischen Anspruchs, ein Versagen des eigenen Geschäftsmodells. Daraus resultiert ein gewaltiger Reputationsschaden, der das Unternehmen Kirche ins Trudeln bringt. Kunden (die Gläubigen) sowie kirchlich Beschäftigte springen ab, die Finanzbasis erodiert. Seit 1990, dem Jahr der deutschen Wiedervereinigung, schrumpfte die katholische Kirche hierzulande von 28 auf 22 Millionen Mitglieder – ein Aderlass um fast ein Viertel. Da erodiert mittelfristig auch die Finanzierungsbasis der Kirche: die Kirchensteuer. Lange nahmen die Einnahmen trotz Mitgliederschwunds zu, weil der Arbeitsmarkt robust war und die Löhne stiegen. Doch 2020 ist das erste Jahr, in dem die Kirchensteuereinnahmen in Deutschland von 6,76 auf 6,45 Milliarden Euro zurückgingen. Aus Sicht der Kirche besonders problematisch ist die Austrittswelle im vermögenden und besonders katholischen Bistum Köln des Kardinals Rainer Maria Woelki.

    Alle Macht den Stakeholdern

    In der Wirtschaftswelt wäre jetzt die Zeit für ein Insolvenzverfahren gekommen. Ich hole mir Rat bei Michael Keppel: Er ist Partner bei der Londoner Restrukturierungsboutique THM Partners LLP und gilt als erfahrener Sanierer: Douglas, Kathrein, Pfleiderer sind einige Stationen seiner Karriere als Restrukturierer. Als engagierter Katholik kennt er die Kirche gut. An der »School of Church« im Vatikan unterrichtet er Priester in »Krisenmanagement« und löst mit ihnen zusammen komplizierte Case Studies.

    Zuerst, so Michael Keppel, wäre zu entscheiden, ob die Insolvenz »out of court« oder »in court« stattfinden soll. Nach den bisherigen Erfahrungen spricht alles für ein gerichtliches Verfahren. Das Gericht bestellt dann einen Insolvenzverwalter, dem von jetzt an alle Entscheidungsgewalt zukommt. Was jetzt zählt sind ausschließlich die Ansprüche der Gläubiger (Stakeholder), in diesem Fall also der Gläubigen (Kirchenmitglieder und Mitarbeiter – nicht zuletzt die Frauen im Kirchendienst- und die Opfer des Missbrauchs): Top-Manager (Marx, Woelki & Co), die sich in der Kirche gerne als Eigentümer aufspielen, werden vom Sanierer entmachtet und haben fortan nichts mehr zu sagen. Bischöfe und leitende Kleriker verlieren ihr Amt. Schließlich sind sie für die Misere verantwortlich. Dann geht es darum, die Forderungen der Stakeholder zu bedienen und die Ansprüche in eine Reihenfolge zu bringen. Diese sind materieller (ineffizient verwendete Steuermittel) und immaterieller Natur (Empfang der Sakramente als Bedingung des Seelenheils, Auslegung des Evangeliums).

    Sanierer Keppel regt einen sogenannten »dept to equity swap« an. Dadurch werden die Schulden der Gläubiger in Eigenkapital gewandelt. So etwas wird in Insolvenzverfahren häufig gemacht, nicht nur, wenn zu wenig Masse zur Ablösung der Schulden da ist, sondern auch, um Gläubiger in die Verantwortung für den unternehmerischen Neuanfang zu nehmen. Sie werden durch dadurch Miteigentümer, erhalten Macht und Stimmrechte.

    Einen »dept-to-equity-swap« könnte man als Prozess der Demokratisierung der Kirche beschreiben. Denn nun erhielte die katholische Kirche tatsächlich echte Aktionäre – eben alle Christgläubigen, die dann als Eigentümer nicht nur metaphorisch sagen könnten »Wir sind Kirche«. Im Wirtschaftsleben wäre deren Macht je nach Umfang der von ihnen gezahlten Kirchensteuern ungleich verteilt, es gäbe katholische Groß- und Kleinaktionäre. Dass die Reichen mehr zu sagen haben als die Armen, widerspricht jedoch dem Evangelium. Es liefe also eher darauf hinaus, dass jeder Katholik gleichviel Macht erhält (»one man/woman, one vote«, nicht »one share, one vote«).

    Assets verkaufen, Opfer entschädigen

    Sodann käme die eigentliche Sanierung. Da geht es um den Verkauf von Assets, also Besitz (Immobilienvermögen, bischöfliche Weingüter), die nicht nötig sind zur Aufrechterhaltung des religiösen Kerngeschäfts und angehäuft wurden in Jahren, als die Kirche nicht wusste, wohin mit dem vielen Steuergeld. Mit den Erlösen könnten die Opfer des Missbrauchs zumindest finanziell angemessener entschädigt werden. Zudem müsste die Komplexität des bürokratisch unübersichtlichen Konglomerats Kirche entflochten werden: Das geht am besten durch Stärkung von Dezentralität und regionaler Autonomie – zu Lasten der Zentrale: Gemeinden an der Basis aufwerten, im Gegenzug die römische Zentrale abschaffen. Die Protestanten kommen ganz gut ohne einen Weltkonzernsitz aus.

    Schließlich – und wahrscheinlich am wichtigsten – geht es angesichts des eklatanten Versagens moralischen Verhaltens um die Errichtung eines Systems der »Corporate Governance«: Nötig ist ein Compliance-System um abzusichern, dass ethische Regeln eingehalten und Verstöße geahndet werden. Unabdingbar dafür sind Transparenz und die Überprüfbarkeit durch externe Instanzen. Das könnte ein Gegenmittel werden gegen den innerkirchlichen Konformitätsdruck des Vertuschens.

    Und was wird aus dem Top-Management? Auch dafür gibt es Vorbilder aus erfolgreichen Sanierungen. Zunächst erhält das gesamte Führungspersonal die Kündigung. Anschließend bekommen alle die Chance, sich neu zu bewerben, sei es auf ihre alte oder eine andere Stelle. Alle wird man nicht mehr brauchen können. Darüber entscheiden jetzt die neuen Eigentümer – also alle Gläubigen der nun sanierten Kirche.

    Rainer Hank

  • 26. Januar 2022
    Geduld zahlt sich aus

    Da braucht es viel Geduld Foto: Bundesregierung

    Dieser Artikel in der FAZ

    Über Schicksal und Charakter

    Was haben Olaf Scholz und Friedrich Merz gemeinsam? Beide Männer zeichnet ein hohes Durchhaltevermögen aus und die Fähigkeit, selbst bei wiederholten Niederlagen nicht aufzugeben. »Stehaufmännchen« hätte man die beiden früher genannt. Heute sprechen wir geschlechtsneutral von Frustrationstoleranz und Resilienz. Scholz wäre gerne SPD-Vorsitzender geworden. Das hat bekanntlich nicht funktioniert. Anstatt den Bettel hinzuwerfen, ließ er sich im Sommer 2020 als Kanzlerkandidat ins Rennen schicken als allein der Gedanke zu höhnischem Gelächter führte (zum Beispiel bei Ex-Kandidat Peer Steinbrück). Heute klingt »Bundeskanzler Olaf Scholz« schon fast so selbstverständlich wie »Bundeskanzlerin Angela Merkel«, während man eine Weile nachdenken muss, wie der oder die SPD-Vorsitzende heißt.

    Friedrich Merz wurde von Angela Merkel 2004 als Vorsitzender der CDU-Fraktion entmachtet. Seitdem sinnt der Mann auf Rache und auf den CDU-Vorsitz. Zwei Mal ging das knapp daneben. Merz ließ sich nicht entmutigen: An diesem Wochenende wird es endlich so weit sein. Ein digitaler Parteitag wählt ihn zum Nachfolger von – wie hieß der nochmal? 18 Jahre sind seit seiner großen Niederlage ins Land gegangen. Durchhaltevermögen gewürzt mit süßer Lust auf Rache bürgen am Ende für den Erfolg.
    Geduld ist eine Tugend, braucht aber Zeit. Ungeduld ist eine Untugend, kann im schlimmsten Fall tödlich enden. Leonard Mlodinow, Sohn von Holocaust-Überlebenden, erinnert in einem gerade erschienenen Buch über »Emotionen« an den Bericht seiner Eltern über ihre Befreiung aus dem KZ Buchenwald. Die alliierten Soldaten verteilten großzügig frisches Wasser, Zigaretten, Schokolade und andere Nahrungsmittel. Während Moshe, ein anderer Überlebender, eine ganze Salamiwurst aufaß, hielt Mlodinows Vater sich zurück. Wenig später klagte Moshe über unerträgliche Darmbeschwerden; am folgenden Tag war er tot. Vater Mlodinow überlebte dank seiner Fähigkeit zu Selbstkontrolle und Zurückhaltung.

    Geduld als Tugend hat bei Ökonomen eine steile Karriere durchlaufen. Fast habe ich den Eindruck, die neue Mode habe die Glücksforschung in den Hintergrund geschoben. Geduld werde dramatisch unterschätzt, wird der Bonner Max-Planck-Forscher Matthias Sutter nicht müde uns einzuschärfen. Die akademische Übersetzung der Geduld heißt Zeitpräferenz: Es geht um die Fähigkeit, einem künftigen Nutzen gegenüber dem unmittelbaren Genuss den Vorzug zu geben. Im Abwägen zwischen Zukunft und Gegenwart sollen wir dem Kommenden eine Chance geben. Der Zins lockt die Menschen, ihr Geld nicht zu verprassen, sondern zu sparen und es anderen zu überlassen, um es zu investieren. Überlegen Sie selbst, ob Sie lieber auf der Stelle 100 Euro oder 110 Euro in drei Wochen hätten. Oder, falls 110 Euro zu wenig sind: Wie hoch muss der Zinsaufschlag sein, damit Sie die 100 Euro auf die Hand ausschlagen? Nebenbei: Was wird aus der Geduld in Zeiten von Niedrig- oder Negativzinsen?

    Präferenzen sind nicht gottgegeben

    Wer seine Ungeduld im Griff hat, wird es im Leben zu mehr bringen und am Ende ein größeres Vermögen haben. Das gilt auch für ganze Länder: Dort, wo die Bevölkerung im Durchschnitt zu mehr Selbstkontrolle in der Lage ist, messen die Ökonomen ein höheres Bruttosozialprodukt pro Kopf. In den USA, der Schweiz, Schweden oder Israel leben anscheinend geduldige Menschen. Auch Deutsche und Franzosen warten ab, Spanier und Italiener können es hingegen kaum erwarten. Geduld ist eine Einzahlung auf den Wohlstand der Nationen.

    Geduld oder Ungeduld würden wir als Charaktereigenschaft bezeichnen. Der Züricher Wirtschaftswissenschaftler Ernst Fehr definiert Präferenzen als »tief verankerte – aber formbare – Bedürfnisse, welche die motivationale Grundlage unserer grundlegenden Verhaltensneigungen darstellen«. Fragt man, woher die Präferenzen kommen und ob sie sich verändern lassen, fällt die Antwort der Ökonomen enttäuschend aus. Ob einer eher altruistisch oder egoistisch handle, ob er risikoavers oder -afin sei oder eben ungeduldig oder geduldig, nehmen sie als gegeben: als offenbart (»revealed«), eine Art theologischer Ausflucht.

    Fehr, ein internationaler Star seiner Zunft, lässt sich mit solchen Ausreden nicht abspeisen. »De gustibus est disputandum«, über Geschmack lasse sich streiten, so die Überschrift seiner Hayek-Vorlesung am Walter-Eucken-Institut vom vergangenen Dezember. Es lohnt sich die Vorlesung auf Youtube anzusehen. Ökonomie definiert Fehr als »Wissenschaft von der Präferenzentstehung und Charakterbildung«. Als Student hätte man ihn mit dieser These vermutlich der Universität verwiesen – oder aber ihn auf die Liste künftiger Nobelpreisträger setzen lassen.

    Fehr zeigt mit einer Fülle von Experimenten: Präferenzen entstehen in der frühen Kindheit. Sie sind nicht gottgegeben, sondern lassen sich verändern. So wurden Kinder zwölf Wochen lang in Grundschulen darin geschult, in vorausschauender Weise zu handeln und die Fähigkeit auszubilden, sich zukünftige Konsequenzen alternativer Handlungen vorzustellen und zu bewerten. Es geht darum, Selbstkontrolle auszuüben, wenn man Versuchungen spürt, »vernünftig« einzukaufen und auf ein Ziel hin zu sparen. Es gehe nicht generell darum, geduldig zu sein; manchmal schade Geduld, sondern vorausschauend zu handeln und künftige Konsequenzen in sein Handeln einzubeziehen. Die Kinder hatten zum Beispiel die Wahl, heute wenige Geschenke zu bekomme oder viele Geschenke in zwei Wochen.

    Geduld macht egoistisch

    Kinder, die diesen besonderen Gedulds-Unterricht durchliefen, waren danach deutlich aufmerksamer und weniger impulsiv als Mitschüler in Kontrollgruppen. Sie lernen, dass ein langer Atem und nachhaltige Anstrengung sich lohnen. »Hinfallen, aufstehen, Krönchen richten, weitergehen.« Die Bereitschaft wächst, »bei der Sache zu bleiben« und heute »Kosten« zu tragen, die morgen einen möglichen Ertrag abwerfen.

    Der Intelligenzquotient ist genetisch geprägt, das soziale Milieu ist von der Familie vorgegeben. Da lässt sich wenig machen. Beim Charakter ist das anders. Präferenzen lassen sich tatsächlich »zum Guten« verändern. Das ist die gute Botschaft.

    Doch wer bestimmt, welche Präferenzen wie verändert werden dürfen? Kinder, die am Ende der genannten Versuche geduldiger waren, waren – unintendiert – leider auch egoistischer geworden, weniger altruistisch oder empathisch. Weil sie es geschafft hatten, dachten sie: Jeder kann es schaffen. Meritokratische Erfahrungen, wonach jeder seines Glückes Schmied ist, lassen das Mitgefühl erkalten. Das bringt die Pädagogik der Präferenz-Ökonomen in Konflikte: Welchen Präferenzen geben wir den Vorzug, wenn es Trade-Offs (zwischen Geduld und Egoismus) gibt? Gott bewahre uns vor einer regierungsamtlichen Präferenz-Kommission!

    Rainer Hank

  • 20. Januar 2022
    Die Kinder sind die Verlierer

    Und wo sind die Freunde? Foto pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Ein neuer Blich auf die gesellschaftliche Ungleichheit

    Corona bedroht alle Menschen gleichermaßen. Alpha, Delta, Omikron – kein Kontinent wird vom Virus verschont. Das ist richtig und doch falsch: Bei den Älteren bedroht Corona die Gesundheit in besonderem Maße. Bei den Jungen sind die Zukunftschancen und das Leben generell bedroht.

    1,5 Milliarden Schülerinnen und Studenten konnten in den vergangenen zwei Jahren nicht so lernen, studieren und leben, wie sie es normalerweise täten. Diese Zahl entnehme ich einer[ Übersichtskarte](http://en.unesco.org/covid19/educationresponse#schoolclosures der Unesco. Bis heute sind die Staaten der Welt über die Frage der Schulschließungen uneins. Während in den USA die Schulen 71 Wochen lang ganz oder teilweise geschlossen waren – in vielen Fällen sind sie es bis heute – haben Frankreich oder Spanien die Klassenzimmer lediglich 12 beziehungsweise 15 Wochen zugesperrt, die Schweiz sogar nur sechs Wochen. Deutschland liegt mit 38 Wochen irgendwo in der Mitte. Uganda hat nach 83 Wochen Schulschließung in der vergangenen Woche wieder geöffnet: Schüler und Lehrer mussten sich in der Zwischenzeit anderswo verdingen – vermutlich ein schlechterer Infektionsschutz als der Klassenraum.

    Der gesellschaftliche Konsens hat sich in den vergangenen zwei Jahren gedreht. Anfangs hat man die Schulen zuerst geschlossen, weil die jungen Menschen am meisten schutzbedürftig seien. Jetzt heißt es: Die Schulen schließen wir zuletzt. Lediglich Bildungsgewerkschaften und Lehrerverbände liebäugeln immer noch mit partiellen Schulschließungen. Vermutlich verstehen sie sich als Anwälte der Lehrer und weniger der Schüler. Man sollte einmal untersuchen, ob es eine Korrelation zwischen der Dauer der Schulschließungen und der Gesundheit der Schüler oder eher der Stärke der Gewerkschaften im jeweiligen Land gibt. Jedenfalls berichtet mein Kollege Winand von Petersdorff, USA-Wirtschaftskorrespondent der FAZ, dass dort die Lehrergewerkschaft die letzte mächtige Arbeitnehmerorganisation sei.

    Langsam setzt sich durch, dass auch in den Schulen nach Kriterien der Verhältnismäßigkeit zu entscheiden ist. Komplette Schulschließungen mit Rücksicht auf den Gesundheitsschutz ließen die pädagogischen, psychischen, sozialen und ökonomischen Kosten des Homeschoolings außer Acht. Erst als wir begriffen haben, dass Schüler weniger stark unter dem Virus als unter Lernmangel, Mangel an Kontakten und Mangel an Abwechslung leiden, haben sich die Gewichtungen verschoben.
    Ist nun alles gut? Karin Prien, CDU-Bildungsministerin aus Schleswig-Holstein, hat so etwas kürzlich behauptet. Anfangs sei man »kalt erwischt« worden, aber dann habe man digital, pädagogisch und hygienemäßig (Stichwort »Luftfilter«) aufgerüstet, um »situationsangemessen« zu reagieren, hat die Politikerin jüngst in einer Talkshow behauptet; sie ist Präsidentin der Kultusministerkonferenz.

    Smartphone geht vor Lernen

    Stimmt das? Ludger Wößmann, Bildungsökonom am Münchner Ifo-Institut, hat Zweifel. Wößmann hat die zweite Welle der Schulschließungen 2021 mit dem ersten Lockdown 2020 verglichen. Dabei hat er 2000 Eltern befragt, wie Kinder die mehrwöchigen Schulschließungen verbracht haben. Das Ergebnis: Im Durchschnitt haben die Kinder im Frühjahr 2021 4,3 Stunden pro Tag mit schulischer Tätigkeit verbracht. Das ist zwar eine knappe Dreiviertelstunde mehr als im Vorjahr, aber immer noch drei Stunden weniger als vor der Krise. Fast jedes vierte Kind hat sich nicht mehr als zwei Stunden am Tag mit Schule beschäftigt. Mehr Zeit als mit Lernern verbringen die Kinder mit Fernsehen, Computerspielen und am Smartphone (4,6 Stunden).

    Nur ein Viertel der Schüler hatten täglich gemeinsamen Unterricht per Video. Und fast vierzig Prozent hatten dies nur maximal einmal pro Woche. Jedes Unternehmen hat sich in kürzester Zeit auf Zoom- oder Teams-Arbeit umgestellt. Aber in den Schulen ist es auch nach einem Jahr Pandemie nicht gelungen, flächendeckend Videounterricht nach Hause zu senden. So viel zum Digitalisierungsschub durch Corona. So viel auch zur situationsadäquaten Corona-Strategie der Schulen, die Frau Prien lobt. Dass leistungsschwache Schüler und Nicht-Akademikerkinder inzwischen besondere Lerndefizite aufweisen, hat einmal mehr auch die Studie von Ifo-Forscher Wößmann gezeigt.
    Kurzsichtig wäre es, lediglich auf die direkten Lerndefizite durch wenig und unkonzentriert konsumierten Unterricht zu blicken und dabei die sozialen Kosten der Schulschließungen zu übersehen. Fabrizio Zilibotti, ein an der amerikanischen Eliteuniversität Yale lehrender Ökonom, hat jetzt zusammen mit Kollegen eine Studie abgeschlossen über die von Schulschließungen verursachte Ungleichheit (»Journal of Public Economics«). Mehr Ungleichheit gibt es nicht nur für die heutige Schülerkohorte im Vergleich mit früheren oder späteren Jahrgängen, die von Corona verschont blieben. Mehr Ungleichheit gibt es erst recht innerhalb der heutigen Schülerschaft.
    Zilibotti macht nämlich darauf aufmerksam, dass für den Lernerfolg nicht nur Lehrer, Eltern und der zu vermittelnde Stoff wichtig sind, sondern auch die Mitschüler. Der Ökonom spricht vom »Peer-Effect«, also den positiven Wirkungen durch den Umgang mit Gleichaltrigen. Die kommen in der Schule häufig aus sehr unterschiedlichen sozialen Schichten. Ich erinnere mich gut, dass das Gymnasium für mich als Zehnjährigen der erste Ort war, wo ich mit Fabrikanten-, Professoren- oder Anwaltskindern der Stuttgarter »Halbhöhe« zusammenkam. Die waren nicht unbedingt schlauer als ich (was ich mit Stolz registrierte), jedoch brachten mich mit einer bürgerlichen Welt und ihren Werten zusammen – wenn schon nicht durch die Mitschüler selbst, so spätestens, als ich die Eltern bei ihnen zuhause kennenlernte.

    Soziale Entmischung: Eine Bildungskatastrophe

    Die Schulschließungen führten nun dazu, dass die Kinder nicht mehr diesen »diversen« Umgang hatten, sondern entweder ganz isoliert zuhause herumsaßen oder aber mit Kindern der Nachbarschaft zusammen waren, die aus dem gleichen sozialen Milieu stammen: man nennt das »soziale Entmischung«; in der Nachbarschaft stößt man immer nur auf seinesgleichen.

    Die fehlenden Anregungen durch die Klassenkameraden, keine »positiven Peer Spillovers«, halten die Yale-Ökonomen für die größte von Corona ausgelöste Bildungskatastrophe. Ich finde das aus eigener Erfahrung völlig nachvollziehbar. Für Kinder aus unteren sozialen Klassen ist das viel schlimmer als für »bessere« Schichten.
    Horace Mann, ein amerikanischer Bildungsreformer im 19. Jahrhundert, nannte die Schule die größte soziale »Chancen-Ausgleichsmaschine« – »the great equalizer«. Diese »Maschine« stottert erheblich. Die Folgen sind nicht absehbar. https://en.unesco.org/covid19/educationresponse#schoolclosures

    Rainer Hank